Sterben | Prozesse gestalten (4/2022)

Editorial

Engel, Ulrich | Halft, Dennis

Was zu einem Sterbeprozess zählt, ist nicht einfach zu definieren. Weder ist der Beginn des Sterbens zeitlich eindeutig bestimmbar, noch konnte man sich bislang auf eine verbindliche Definition über den Todeszeitpunkt – also über das Ende des Sterbens – verständigen. Persönliche wie gesellschaftliche Einstellungen beeinflussen den Sterbeprozess, dem sich die vorliegende Wort und Antwort-Ausgabe widmet. So romantisierte der Biedermeier-Maler Carl Spitzweg etwa den Tod ins Idyllische hinein: „Ganz sanft im Schlafe möcht ich sterben / Und tot sein, wenn ich aufwach!“ Ganz anders begegnet der Prozess des Vergehens im Philipper-Brief, wo Paulus im Blick auf den auferweckten Christus sein persönliches Sterben als einen „Gewinn“ (Phil 1,21) bekennt. Gewinnbringend in anderer Hinsicht ist das Sterben für den Schweizer Verein für Freitodbegleitung „Exit“, dessen 53.000 Mitglieder 35 CHF Jahresbeitrag zahlen.

Stichwort

„Würdevolles“ Sterben

Knoll, Franziskus

Uns allen ist klar: Irgendwann einmal sind wir tot. Aber de facto befassen wir uns in guten Tagen wohl recht selten mit den Herausforderungen des eigenen Sterbens und insbesondere damit, was für den Einzelnen dann ein würdevolles Sterben ausmachen würde. Schon bei dem Zusatz würdevoll gehen die Meinungen (weit) auseinander. Am ehesten einigt man sich vielleicht noch darauf, dass man in einem vertrauten Umfeld sterben und von Menschen begleitet werden möchte, deren Beistand von einer personenzentrierten Haltung geprägt ist. Während aber für die einen die Art und Weise der Ausgestaltung der letzten Lebensphase und die Bestimmung des Todeszeitpunktes höchst individuell sein sollte, postulieren andere eine möglichst strikte Orientierung an Prinzipien wie sie beispielsweise von Religionsgemeinschaften vorgegeben werden.

Wofür lohnt es sich zu sterben?

Mertes, Klaus

Seit Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 überfallen hat, klingt die Frage danach, für welches Ziel es sich eigentlich zu sterben lohne, reichlich akademisch und zugleich doch beklemmend aktuell. Konkret wird die Frage in der Ukraine gegenwärtig zehntausendfach beantwortet, nicht nur von den Soldatinnen und Soldaten, die gegen die Aggression kämpfen und dabei ihr Leben riskieren oder gar hingeben. Auch ihre Mütter, Väter, Kinder, Partnerinnen und Partner stehen hinter den Kämpfenden, und ebenfalls ein großer Teil der Öffentlichkeit hierzulande, die die Tapferkeit und den Mut der Ukraine bewundern und den Zweck ihres Einsatzes damit auch bejahen.

Das Sterben entschärfen

Hafner, Johann Ev.

Dass wir mit dem ersten Moment unseres Lebens zu altern beginnen, ist eine biologische Tatsache. Dazu kommt die allgemeine Erfahrung, dass Altern irgendwann ins Sterben und zwangsläufig in den Tod mündet. Wir beginnen also mit der Geburt zu sterben. Das klingt nach einer schlimmen Feststellung. Wieso eigentlich? Mehrere Religionen versuchen, diesem Satz die Schärfe zu nehmen. Der Buddhismus lehrt: Wer am Leben festhält, der wird zeitlebens leiden. Wer aber anerkennt, dass das Leben selbst Leiden und Sterben ist, wird gelassen sein; wer seinem eigenen Leben gegenüber indifferent ist, gelangt in einen Zustand entspannter Klarheit. Auch manche abendländischen Denker, wie der Stoiker Epiktet (st. ca. 140 n. Chr.) in der Antike oder Schopenhauer in der Moderne, haben diese Haltung vertreten, aber sie blieben Ausnahmen.

Um elf Uhr wird gestorben

Grave, Ingrid

Die katholische Kirche lehnt Sterbehilfe ab. Ich weiß es. Trotzdem habe ich einem Menschen auf mehrfaches Bitten hin mein Dabeisein nicht verweigert. Alles begann mit einem Telefonanruf, in welchem es in keiner Weise ums Sterben ging. In der Redaktion einer bekannten Schweizer Tageszeitung plante man für den Sommer eine Reihe von Gesprächen, jeweils zwischen zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten. Für mich als Ordensfrau war eine Prostituierte vorgesehen, die aber noch gefunden werden musste. Umfang des Gesprächs: Eine ganze Zeitungsseite inklusive Foto. Meine erste (unausgesprochene) Reaktion: Mache ich nicht! Ich habe es dann doch gemacht.

Wer oder was stirbt beim „Artensterben“?

Horstmann, Simone

Ein Disclaimer vorweg: Als jemand, die (u. a.) mit Hühnern zusammenlebt, ist meine Expertise in Sachen Artensterben überschaubar. Gut vertraut bin ich hingegen mit dem Sterben individueller Tiere. Die sechs Hennen, die in meinem Garten leben (und jene, die dort begraben liegen), sind ‚Legehybriden‘: Dieser Begriff charakterisiert sie als Extremzüchtungen, deren geschundene Körper für die ‚Eierproduktion‘ der Tierindustrie, der sie entkommen sind, maximal ausbeutbar gemacht werden. Die Möglichkeit ihres Weiterlebens über das eine, ihnen zugestandene Jahr in der Tierindustrie hinaus ist von selbiger nicht vorgesehen – dass ihr (Über-)Leben deswegen ständig auf Messers Schneide steht, erlebe ich nahezu täglich und deswegen ist mir auch ihr Sterben nur allzu vertraut. Allein in Deutschland werden jährlich Milliarden dieser Legehybriden künstlich aufgezogen, für wenige Monate tierindustriell genutzt und dann in den meist polnischen oder niederländischen Megaschlachtanlagen maschinell getötet und zu ‚Biomasse‘ etwa für Dünger verarbeitet, bevor dieser Teufelskreis in den industriellen Kükenbrütereien erneut beginnt. Wenn es also eine Tierart auf dieser Welt gibt, die bereits aufgrund ihres zahlenmäßigen Vorkommens alle Rekorde sprengt, dann sind es diese Hühner. Sie sind qua ihrer schier unvorstellbaren Zahlen an Individuen derart weit von unseren Sorgen um das Artensterben entfernt, dass einige Zeitgenossen die Hühner bereits als vermeintliche „Evolutionsgewinner“ feiern und tragischerweise aus dem Blick verlieren, dass ausgerechnet ihr individuelles Sterben in unserer Gesellschaft gleichermaßen grauenvoll wie zutiefst akzeptiert und einnormalisiert ist. Eben diese Aufmerksamkeitsökonomie beschäftigt mich in diesem Beitrag: Wie ist damit umzugehen, dass wir das Sterben von Tieren betrauern, wenn es ihre Art betrifft – kaum aber, wenn es um das individuelle, oft quälend leidvolle Sterben tierlicher Subjekte geht?

Ordensgemeinschaften in der Vollendungsphase ihres Lebens und Auftrags

Röckemann, Laetitia

Als ich 1975 in den Orden eintrat, hatte ich eine vage Vorstellung davon, dass es im Laufe der Geschichte immer einmal Orden gegeben hatte, die „ausgestorben“ waren. Man kannte ja die vielen berühmten Ruinen. „Das war damals!“, dachte ich und meinte, dass das heutzutage nicht mehr vorkomme – und ganz gewiss nicht bei der Kongregation, die ich gerade mit Begeisterung gewählt hatte. Jene Untersuchung, die belegt, dass klösterliche Gemeinschaften angeblich im Durchschnitt 350 Jahre Bestand hatten (bzw. hätten) und dann aussterben würden, gab es noch nicht. Und außerdem war meine Gemeinschaft noch weit von dieser Wegmarke entfernt.

Dominikanische Gestalt

Rose Hawthorne Lathrop OP (1851–1926)

Schmeiser, Norbert

Rose Hawthorne Lathrop war zeitlebens im wörtlichen wie übertragenen Sinn mit Tod sowie Sterben konfrontiert und hat sich zudem diesem Thema freiwillig gestellt.

Wiedergelesen

Jon Sobrino SJ „Das gekreuzigte Volk“ (2012)

Denger, Theresa

„Rutilio ist zum (jesuanischen) Märtyrer geworden, weil er Campesinos verteidigte, die von der Oligarchie unterdrückt und von Sicherheitskräften und Todesschwadronen drangsaliert wurden. (…) Und dasselbe gilt für Monseñor Romero. Die These lautet: ‚In El Salvador konnte es Märtyrer geben, weil ein gekreuzigtes Volk existierte‘.“