Schubladen im Kopf | Ressentiments (3/2023)

Editorial

Dennis, Thomas | Prcela, Frano

Die Tribalisierung der Gesellschaft schreitet voran. Nicht nur, dass wir seit Jahren einen Anstieg der ‚Ismen‘ zu beklagen haben (Extremismus, Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Autoritarismus u.v.a.m.), wir erleben auch, dass mit diesen bewusst Politik gemacht wird, Wahlen gewonnen und gar Kriege angezettelt werden. Die Grundsubstanz des toxischen Gebräus bilden Ressentiments, die sich in den Hirnen und Herzen der Menschen festgesetzt haben und dort ihr Unwesen treiben. Jenseits der gemeinschaftlichen Ebene blicken wir in diesem Heft aber auch auf die individuelle: Stereotype und Vorurteile helfen, die Welt zu erfassen und zu strukturieren, und sind damit denknotwendig. Wie aber umgehen mit dieser Ambivalenz?

Stichwort

Ressentiment und Vorurteil

Lewek, Philine

Der Begriff Ressentiment hat als französisches Lehnwort im deutschen Sprachgebrauch deshalb überlebt, weil es kein treffendes deutsches Pendant gibt. In die Nähe gerückt wird oft das „Vorurteil“, definiert als ein Cluster von Einstellungen oder Eigenschaften, die einer Gruppe (oder ihren einzelnen Mitgliedern) zugeschrieben wird und sie direkt oder indirekt abwertet – oft im eigenen (Gruppen-) Interesse. Doch das trifft den Bedeutungsgehalt des Ressentiments nur zum Teil. Zur Definition wird klassischerweise auf die berühmte Fabel vom Fuchs und den Trauben zurückgegriffen: Den Blick aufs Ziel gerichtet, springt der Fuchs vergeblich nach den Trauben, die außerhalb seiner Reichweite hängen.

Fresser, Säufer, Freund der Zöllner und Sünder

Hartmann, Michael

Bis heute scheiden sich an Jesus von Nazareth die Geister. Für die einen war er das Haupt einer innerjüdischen Reformbewegung, die im ländlichen Galiläa begonnen hat und schließlich in Jerusalem am Widerstand des jüdisch-religiösen Establishments und der römischen Besatzungsmacht gescheitert ist. Für die anderen hat sein weltweiter Siegeszug gerade in seinem Scheitern begonnen, als Gott ihn von den Toten erweckt hatte (1 Kor 15,4ff.). Nach christlicher Lesart beansprucht der Christus Jesus seit dem Ereignis von Ostern als „Sohn Gottes“ kosmische Bedeutung.

(Un)soziale Medien?

Nothelle, Claudia

Am Geburtstag ist es immer besonders schön, auf Social Media unterwegs zu sein. Hunderte Glückwünsche – auf allen Kanälen. Mal sehr persönlich, mal einfach ein Glücksklee-Emoji; mal eine Sprachnachricht, mal ein Video und ungezählte Likes. Wie schön, dass Du geboren bist im digitalen Zeitalter… Solche Wohlfühlbereiche sind selten im Social Media-Kosmos.

Vorurteile und Stereotype

Brinker, Karl-Heinz

Ein Vorurteil ist laut Wikipedia „ein Urteil, das einer Person, einer Gruppe, einem Sachverhalt oder einer Situation ohne eine gründliche und ohne eine umfassende Untersuchung, Abklärung und Abwägung zuteilwird.“ Dieser Artikel wird sich nicht mit Vorurteilen gegenüber Dingen („Ein VW ist ein zuverlässiges Auto“) oder Sachverhalten („Das Mittelalter war düster“) befassen, sondern nur Vorurteile in sozialen Kontexten betrachten.

Kulturkämpfe sind ungewinnbar

Resing, Volker

Vielleicht müssen wir uns das Ressentiment, also den abwertenden Groll, als eine lustige Angelegenheit vorstellen. Wenn die Theologin Doris Reisinger ein Bild von Papst Franziskus neben ein Bild von König Charles III. auf Twitter postet, beide in langen Gewändern auf einem „Thron“, dann sieht die Ähnlichkeit zunächst amüsant aus. Doch diese sei nicht zufällig, so der ernste Kommentar von Reisinger, sondern zeige, „Anachronismen, die es in unserer Zeit nicht mehr geben sollte“.

Wenn die Trauben zu sauer sind …

Bokler-Völkel, Evelyn

„Ein Fuchs […] sah im Geländer voll Verlangen, hellrote reife Trauben hangen. Gern hätt‘ der Schelm davon genascht. Doch hingen sie zu hoch. Er sprach wie überrascht: Das Zeug ist viel zu grün und räß für unsereinen! Tat er nicht gut daran, zu spotten statt zu weinen?“ So formuliert es Jean de la Fontaine, indem er dichterisch die Parabel von Äsop verarbeitet. Und tatsächlich: Wer vermag dem Fuchs seinen Frust über die Unerreichbarkeit der Trauben zu verübeln? Die Geschichte erzählt poetisch die Grunderfahrung einer verletzenden Demütigung sowie Ohnmachtserfahrung und wie diese von dem Betroffenen gewendet wird: Statt über die Unerreichbarkeit des Objekts seiner Begierde zu wehklagen, beschließt der Fuchs diese Trauben gar nicht mehr zu wollen, weil sie ja doch zu sauer seien – zumindest vordergründig.

Dominikanische Gestalt

Walter Kerlinger OP (vor 1345–1373)

Springer, Klaus-Bernward

Der Dominikaner Walter Kerlinger wurde 1345 Lektor des dominikanischen Konvents in seiner Geburtsstadt Erfurt. Nach seinem Studium in Paris von Papst Urban V. zum Professor ernannt,1 wurde er im Oktober 1364 päpstlicher Inquisitor – eine Ernennung, die der Papst am 27. April 1367 aus unbekannten Gründen wiederholte.2 In diesen drei Jahren wurde die päpstliche Inquisition in Deutschland durch einen Inquisitor pro Erzbistum erneuert. Urban V. empfahl Kerlinger nicht nur den Erzbistümern Bremen und Magdeburg, sondern auch beiden Stadträten. Obwohl er Inquisitor für beide Erzdiözesen und ebenso für die zumeist Mainz zugeordneten Suffraganbistümer Halberstadt, Hildesheim, Paderborn und Verden wie auch für das Bistum Kammin war, wirkte Kerlinger meist im thüringischen Teil der Erzdiözese Mainz und in Erfurt. Vom Bezirk des Mainzer Inquisitors getrennt, erhielt Kerlinger also das vorwiegend die ganze Ordensprovinz Saxonia umfassende Untersuchungsgebiet.

Wiedergelesen

Peter Sloterdijk „Zorn und Zeit“ (2006)

Kirchhoff, Wanja

Mit dieser These leistet der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem politisch-psychologischen Versuch, so der Untertitel von Zorn und Zeit (2006), einen ersten ausführlichen Beitrag zur ,Monotheismus-Debatte‘, in deren Rahmen er vor allem durch Gottes Eifer (2007) hervortreten sollte. Der Rückgang auf das Thema des ,zornigen Gottes‘ steht hier im Zusammenhang eines weitwinklig angelegten Versuchs, das Politische vom thymós, mithin von einer psychologischen Größe her zu erschließen, über deren Nutzen und Nachteil sich die Gegenwart aufs Neue zu vergewissern habe: Im archaischen Kontext zunächst „den Regungsherd des stolzen Selbst“ (24) beschreibend, wird der Thymos-Begriff von Sloterdijk im Weiteren auf den stolzhaften Drang menschlicher Individuen und Kollektive nach Satisfaktion, Anerkennung und Leidensausgleich ausgeweitet. Anders als die Psychoanalyse, die bei der Erklärung menschlicher Tatsachen zur Überbelastung des Eros neige (27–36), hätte die philosophische Affekttheorie der Alten der stolzen Selbstbehauptung und dem gerechten Zorn (neben dem Begehren und vor der beide austarierenden Vernunft) noch ihren Platz zugestanden (40–44) – einem Grundzug der Sloterdijk’schen Anthropologie entgegenkommend, die lieber noch den „Aggressor als Geber“ (89–95), „das Zornsubjekt unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit einem Spender“ (90), als den Menschen vom Defizitären her zu denken bereit ist.