Maria Anna Zumholz, Das Kolleg St. Thomas in Vechta/Füchtel 1947–1990. Einblicke in die Geschichte eines katholischen Internates für Jungen in der Trägerschaft der Dominikanerprovinz Teutonia nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur historischen Bildungsforschung (Schriften des Instituts für Regionalgeschiche Bd. 4), Aschendorff Verlag Münster 2023, 605 S., € 28,–.

Um es gleich vorwegzusagen: Diese hervorragende Studie ist weit mehr als bloß ein Blick in die Geschichte einer katholischen Internatsschule in der Trägerschaft eines Ordens, in diesem Falle des Dominikanerordens. Sie bietet vielmehr einen tiefen, differenzierten und somit erhellenden Einblick in die zeitlichen, sozialen und kirchlichen Umstände, unter denen in der untersuchten Zeit im katholischen Raum pädagogisch gehandelt wurde. Deswegen lohnt sich die Lektüre der Studie auch weit über den Kreis der dominikanisch interessierten Leserschaft hinaus, ganz sicherlich jedenfalls auch für jesuitisch geprägte Kollegien.

Alle Phänomene psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt, die von der Verf.’in insbesondere aufgrund der Zeugnisse ehemaliger Schüler (nahezu 200 von ihnen reagierten auf ihren ausführlichen Fragebogen – vgl. 602 ff.) und nach aufmerksamem Studium der Archive dargestellt werden, lassen sich über den dominikanischen Rahmen hinaus verallgemeinern: Ein ambivalentes Verhältnis des Ordens zu seinen eigenen pädagogischen Institutionen; konzeptionelle Unklarheiten – Kaderschmiede für Nachwuchs, Hervorbringung einer sozial engagierten Elite; unwillige, mangelhaft bis überhaupt nicht vorbereitete Ordensmänner, die im „heiligen Gehorsam“ in eine Tätigkeit geschickt werden, der sie eigentlich nicht nachgehen wollen; Eltern, die den Schulleiter ausdrücklich autorisieren, Prügelstrafen zu exekutieren; öffentliche Demütigung und Erniedrigung von Schülern, durch die Mitschüler in das Gewalthandeln mit hineingezogen wurden (insbesondere verantwortet und durchgeführt von dem langjährig in leitenden Funktionen tätigen P. Walbert Weber OP, 1947–1968, 92–106); sexualisierte Gewalt im Kontext von „Aufklärungs“-Unterricht (hier insbesondere P. Ludger Stockhausen OP, 1956–1961, 106–127, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des masturbationsfixierten Schrifttums von P. Clemente Pereira SJ), Vorstellungen von Männlichkeit in einem reinen Jungen-Kolleg und deren Folgen für das System und die Prägung der Jugendlichen; Rollenanhäufungen und Rollenunklarheiten nicht zuletzt auch im Verhältnis zwischen Schule und Internat; Diskrepanz zwischen äußerer Erfolgsgeschichte und dunkler Kehrseite.

Trotz der stimmigen Kontextualisierung all dieser pädagogischen Katastrophen entschuldigt die Verf.’in an keiner Stelle Taten der Täter oder Versagen der Institution nach dem Motto: „Die Zeit war eben damals so.“ Vielmehr wird gerade am Beispiel von Konflikten, besonders zu Beginn des Wiederaufbaus nach 1945 deutlich, dass es konzeptionelle und praktische Alternativen gab: eine „liberale“, gewaltfreie Akzentuierung der thomistischen Tradition, die für ein von Dominikanern geführtes Kolleg, zumal mit dem Namen St. Thomas, maßgebend ist. Prügelorgien und sexualisierte Gewalt waren also schon zu ihrer Zeit als solche erkennbar. Das Beispiel von P. Laurentius Siemer OP, Vorgänger von Weber, der Eugen Kogon in den 1920er Jahren gegen dessen Tendenz zum Ordenseintritt davon abriet, zeigt, dass Kollegien keineswegs immer als „Kaderschmieden“ für potenziellen Nachwuchs verstanden werden konnten oder sich wegen autoritärer Fixierungen in den Abgründen schwarzer Pädagogik verlieren mussten. Und es gilt auch, was in den letzten Jahren in so vielen anderen pädagogischen Institutionen deutlich wurde: Die vielen positiven Erfahrungen, die Schüler mit dem Kolleg machten, müssen gar nicht bestritten werden. Nur: Das Glück der Glücklichen machte das Unglück der Unglücklichen nur noch bitterer. Die Glücklichen waren blind für die Unglücklichen. Jedenfalls: Erst 1968 wurde das Kolleg in ruhigere Bahnen geführt, zunächst durch den – allerdings ebenfalls als „Schläger“ gefürchteten – neuen Internatspräfekten P. Arnold Borgerding OP, dann ab 1973 durch P. Franz Voith OP sowie den neuen Schulleiter P. Siegfried Dörpinghaus OP (334–411). Externe Schüler wurden zugelassen, die Nachfrage nach Internat ging entsprechend der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung schrittweise zurück, das Internat wurde 1990 geschlossen.

M.A. Zumholz, Privatdozentin für neuere Geschichte an der Universität Vechta, berichtet aus der Perspektive unterschiedlicher Epochen über dankbare, zornige und ambivalente Rückblicke (Emotionsgeschichte, 412–437). Durch die Skandalisierung der Missbräuche am Berliner Canisius-Kolleg 2010 kommt das ganze Ausmaß von Gewalterfahrungen erst wirklich ans Tageslicht. Die Geschichte der „Aufarbeitung“ nach 2010 wird abschließend (455–472) rekapituliert – ein besonders spannender Einblick für alle Institutionen, die in vergleichbaren Prozessen stecken und auch an ihre Grenzen geraten. Die Verf.’in setzt sich mit jenen Grenzfällen auseinander, in denen Aussage gegen Aussage steht. Vor dem Hintergrund möglicher „therapierter Erinnerungen“ (Elisabeth Loftus) nimmt sie nur dann Beschuldigungen in die Studie auf, „wenn mindestens zwei ehemalige Schüler gleichartige Beschuldigungen erheben.“ Man spürt dem Text an, wie schwierig es für die Verf.’in in zwei Fällen war, Anklagen nicht in die Studie aufzunehmen, weil sie „aus dem Rahmen fielen und durch keine weiteren – mündlichen wie schriftlichen – Quellen eine Bestätigung fanden.“ (20) Aber sich genau dieser schwierigen Entscheidung nicht zu entziehen, macht dann auch umgekehrt den Ernst des Satzes verlässlich, den Betroffene nicht nur erwarten dürfen, sondern auf den sie dann auch bauen können müssen, wenn er ausgesprochen ist: „Wir glauben Ihnen.“

Klaus Mertes SJ, Berlin