Stichwort

Identität

„Wir und die Anderen“, so beginnt die Suche nach Identität bzw. Identitäten. Das Thema der „Identität“ wird u. a. in den politischen Wissenschaften intensiv erörtert. Identitätsfragen gelten dort als „soft“, d. h. als „weiche“ Fragen, weil sie eher vor- oder wenigstens subpolitischer Natur seien. Und dennoch ist deutlich, dass politisch-institutionelle Selbstverständnisse durchaus eine Rolle spielen, wenn es um sozialintegrative Aufgaben des gesellschaftlichen Zusammenlebens geht. Identität ist zunächst die Erfahrung von Einzelnen oder von Gleichgesinnten und drückt deren Selbstverständnis aus. Dabei ist sie keine statische Größe, sondern vielmehr situativ erfassbar. Man spricht von „doing identity“ und deutet damit das Prozesshafte an der Identitätsbildung an. Es ist also etwas in Bewegung.

Vielfältige Deutungen

Man unterscheidet im Wesentlichen personale, soziale und kollektive Identität. Denn nicht nur der Einzelne, sondern auch Gemeinschaften bilden jeweils eine bestimmte Identität aus. Religiöse Identität spielt auch in den politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten immer wieder eine Rolle – sei es im Konfliktfall (potenzielle Aufnahme der nichtchristlich geprägten Türkei in die EU, [bio-]ethische Debatten), sei es zur Bestätigung von Grundwerten (Menschenrechte und Menschenwürde, Asyl- und Sozialpolitik). Die Rede von einer religiösen Identität bedarf jedoch – wie auch bei anderen Varianten von Identität – einer ernsthaften Prüfung: Ist es ein Argument mit einem strategischen Ziel oder eine objektive Aussage?

Identität ist ein „Differenzbegriff“1, der allein schon bei den grundsätzlichen Fragen des Verhältnisses von Individuum zu sich, den Anderen und zur Gesellschaft eine Rolle spielt. So gibt es den prinzipiellen Anspruch des Menschen, ein Individuum zu sein, Individualität ausbilden zu können und in seiner Identität anerkannt zu werden. Dennoch bleibt Identität ein Konstrukt, denn „Identität ist behauptete und geglaubte Identität“2. George H. Mead sieht Identität in der Kommunikation, in der sie gewonnen wird, Erik H. Erikson hält Identität für gelungen, wenn sie zur Ich-Identität wird und sich die Erwartungen von Anderen mit den eigenen verbinden, Talcott Parson hingegen definiert Identität als die Möglichkeit, dem sozialen Rollenpluralismus eine adäquate individuelle Integration entgegenzusetzen. Erving Goffman bringt es auf die Formel: „Wir alle spielen Theater“, da seiner Meinung nach Identität im Alltag eher eine Frage der Präsentation ist.

Beispiel: Identitätsfaktor Europa

Es ist evident, dass politisch-institutionelle Selbstverständnisse durchaus eine Rolle spielen, wenn es um sozialintegrative Aufgaben des gesellschaftlichen Zusammenlebens geht.3 Politische Ordnungen brauchen ein „Gedächtnis“4. Identität ist so Leitbegriff und Schlagwort der Zweiten Moderne.5 Dies meint bevorzugt die Erfahrung von Einzelnen einerseits und das Selbstverständnis der jeweiligen Akteure andererseits. Zudem erweist sich Identität ethnografisch als kulturelle Praxis, die nicht statisch, sondern nur situativ erfassbar ist.6 Bewusst thematisiert wird Identität gewöhnlich in gesellschaftlichen resp. politischen Krisen oder Schlüsselerfahrungen, so auch in der bezeichneten Zweiten Moderne (die sich bewusst absetzt von der Ersten Moderne mit ihren grundlegenden Akzenten auf Nationalstaat, Individualisierung oder Rationalisierung) mit ihren Eigenheiten wie Globalisierung und Entgrenzung, die jeweils die Identität zu einem mit einem zusätzlichen Pluralisierungsschub versehenen vielschichtigen und prozessualen Phänomen macht. Identität bleibt ein unverzichtbarer Leitbegriff, ein „Integral aus Selbst- und Gruppenbildern […], die im stetigen Prozess der Auseinandersetzung mit Rollen, Fremdbildern und anderen kulturellen Zuschreibungen (zum Beispiel Stereotypen) sowie persönlichen und kollektiven Erfahrungen, Erinnerungen und Zukunftserwartungen situativ aktiviert werden.“7

So ist die Europäische Union nicht nur ein Geflecht funktionsfähiger Institutionen, sondern ein gemeinsames supranationales Kollektiv, d. h. ein Zusammenschluss liberaler Demokratien.8 Bei aller Schwierigkeit, einen Terminus wie den der Identität zu definieren, sind kollektive Identitäten nicht einfach nur affektiv begründete Phänomene, sondern komplexe Konstrukte, die zusätzlich kognitive, evaluative und konative Elemente einschließen. Hinsichtlich der Volkssouveränität ist dabei nicht die Nation, sondern der „Demos“ Bezugsebene des europäischen Volkes. Um theoretische Konzepte wie das der kollektiven Identität sachlich zu begreifen, bedarf es bestimmter Orientierungsaspekte (Solidarität, Loyalität, Interesse, Vertrauen9).

Es ist evident, dass die Identität Europas nicht einfach unter der optimistischen Anmutung eines ökonomisch ausgerichteten Spillover-Effekts abhandelbar ist, sondern dass es des Blickwinkels auf eine politische und kulturelle Identität bedarf, und dies unter Berücksichtigung und Einbeziehung der anderen, um dem Sachverhalt gerecht zu werden. Die drei Gravitationszentren Werte, Verfassung und – last, but not least – Religion stellen dabei eine besondere Herausforderung dar.

Identität

In der Krise rückt Identität prinzipiell wieder in den Vordergrund. Dies gilt u. a. für den Europagedanken, werden Identitäten doch vor allem durch verbindende Erzählungen über Gemeinsames, durch „Narrative der Zugehörigkeit“10 begründet. So lässt sich eine vorläufige Definition formulieren: „Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben.“11

Fußnoten

01 H. Abels, Identität, Wiesbaden 32017, 2.

02 Ebd., 4.

03 H. König, Statt einer Einleitung: Europas Gedächtnis. Sondierungen in einem unübersichtlichen Gelände, in: ders./J. Schmidt/M. Sicking (Hrsg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008, 9–37, hier 12.

04 Ebd., 17.

05 Vgl. I. Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989 (Alltag & Kultur Bd. 14), Köln 2011, 68–88.

06 Vgl. Th. Eggensperger, Zwischen Pathos und Ernüchterung. Heimat oder das Ringen um eine Europa-Identität, in: K. Karl/Chr. Uhrig (Hrsg.), Zwischen Heimat und Fremde. Auf der Suche nach dem eigenen Leben, Münster 2019, 49–66.

07 I. Götz, Deutsche Identitäten, a.a.O., 77.

08 V. Kaina, Wir in Europa. Kollektive Identität und Demokratie in der Europäischen Union, Wiesbaden 2009, 10.

09 Ebd., 185.

10 Th. Sternberg, Europa – eine christliche Vision?, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2016, 9–25, hier 10.

11 H. Abels, Identität, a.a.O., 200.

Der Autor

Dr. theol. Thomas Eggensperger OP, M.A. (eggensperger@institut-chenu.info), geb. 1963 in Wien (Österreich), Prof. für Sozialethik an der Phil.-Theol. Hochschule Münster, Geschäftsführender Direktor des Institut M.-Dominique Chenu Berlin. Anschrift: Schwedter Str. 23, D-10119 Berlin. Veröffentlichung u. a.: Arbeit, Muße, Langeweile. Ein scheinbar unwirkliches Wechselverhältnis, in: ders./Th. Dienberg/U. Engel, Zeit ohne Ewigkeit. Lebensgefühl und Last des gehetzten Menschen, Ostfildern 22018, 58–81.