Editorial

Vor der Frage nach dem Selbst gibt es kein Entrinnen. Die eigene Identität bleibt eine unfreiwillige, lebenslange und multidimensionale Aufgabe, der sich jede und jeder kontextgebunden und innovatorisch stellen muss. Das geht nicht allein im sterilen Raum der Selbstreflexion, sondern wird durch Fremdzuschreibungen und soziale Zusammenhänge beeinflusst. In dieser Ambivalenz von Narrativen können Feindbilder durch Ängste geschürt werden; es drohen gesellschaftliche Spaltung und Entmenschlichung, wie anhand gegenwärtiger politischer Entwicklungen in Europa und den USA zu beobachten ist. Die vorliegende Ausgabe von Wort und Antwort problematisiert die Frage nach Identität(en) und will alternative Denkhorizonte aufzeigen.

Im „Stichwort“ befasst sich Thomas Eggensperger OP (Berlin/Münster) mit dem Identitätsfaktor Europa. Kristin Weingart (Tübingen) exemplifiziert die Komplexität der Frage nach einer kollektiven Gemeinschaft am Beispiel der biblischen Selbstreflexion Israels, das sich in nachexilischer Zeit vor die Aufgabe gestellt sah, eine neue narrative Konstruktion der kollektiven Identität zu finden. Ein pragmatischer Denkansatz wird von Felix Geyer ISch (München) vorgestellt, der eine Verbindung zwischen Ethik und Identität schafft und einen möglichen prozesshaften Lösungsweg eröffnet. Immer pluraler werdende Gesellschaften haben auch einen Einfluss auf die religiöse Identität des Einzelnen, wie Manuela Kalsky (Amsterdam) aufzeigt. Religiöse Diversität in Familien und im eigenen Selbst erfordert ein neues Konzept von Zugehörigkeit. Günther Eßer (Bonn) stellt die innere Pluralität der Identität der Alt-Katholiken dar, die die widersprüchlich scheinenden Merkmale katholisch und ökumenisch zusammen denken. Die Gefahren rechter Identitätspolitik für die europäische Politik und Gesellschaft werden von Gudrun Hentges (Köln) und Hans-Wolfgang Platzer (Fulda) luzide dargelegt. Dieser Perspektivenreichtum wird ergänzt durch das Lebenszeugnis der streitbaren und durchsetzungsstarken Hanna-Renate Laurien OPL (1928–2010), das Bernhard Vogel (Speyer) schildert. Abschließend befasst sich Michael Kuhn (Brüssel) mit einer Relektüre des Europäischen Vertragswerks auf dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen nationaler und europäischer Identität.

Johannes Frenz/Dennis Halft OP