Markus Etscheid-Stams/Regina Laudage-Kleeberg/Thomas Rünker (Hrg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg/Br. 2018, 308 S., € 25,–.

Der Band bietet im Hauptteil drei unabhängige Studien, die durch das Bistum Essen in Auftrag gegeben wurden (Meta-Studie des Zentrums für angewandte Pastoralforschung/ Bochum, explorative Untersuchung durch das Institut empirica für Jugendkultur und Religion/ Kassel, theologische Reflexionen durch das Institut M.-Dominique Chenu/ Berlin). Der Titel ist Programm: es geht um Fragen der Kirchenbindung und um die Suche nach Maßnahmen, ihrer Erosion zu begegnen (Stichwort „Reformen“). Durch die Expertisen soll eine breitere und fundierte Grundlage geschaffen werden, mit der das Ruhrbistum seine seit 2005 unternommenen Zukunftsinitiativen erfolgreich entwickeln will. Dieser Prozess wird auch im Dialog mit Menschen gestaltet, die bereits ausgetreten sind oder sich zumindest damit beschäftigen. So begrüßenswert es ist, dass sich die institutionell verfasste Kirche dieser Aufgabe in dieser Weise stellt: dieses Buch stellt ihr ein schlechtes (Selbst-)Zeugnis – und darum ist es gut. Eher unfreiwillig geraten die Beiträge von Seiten des Bistums zum eigentlichen Hauptstück. Denn die entscheidende Frage ist, von welchem Standpunkt aus und woraufhin – also zu welchem Zweck – Veränderungen vorgenommen werden sollen. In der Hinsicht erzeugen diese Beiträge den wichtigsten dokumentarischen Wert, setzen sie die diskursiven Reizpunkte und schaffen eine theologisch prekäre Optik auf das ekklesiale Selbstverständnis; dabei gerät das Bistum Essen allerdings zum Fallbeispiel für den größeren Zusammenhang des Kirchenthemas.

Die Studien bieten jeweils einen differenzierten Zugang mit einer eigenen Methodik in das Thema, wodurch den Leser*innen ein größeres Panorama gezeichnet ist. So verdienen sie schon grundsätzlich eine eigene (kritische) Auseinandersetzung, mehr noch allerdings durch ihre Synopse, die zwangsläufig in ein vergleichendes Lesen führt und ein qualitatives Gefälle deutlich macht. Gemeinsam ist ihnen allerdings die Aussage, in der Kirche hätte es seit dem Vaticanum II kaum Fortschritte gegeben und sie mahnen eine neuerliche Lozierung im Kerygma an. Denn die wichtigsten Austrittsgründe werden darin erkannt, dass Kirche in ihren spirituellen Kernkompetenzen versagt habe und für die individuellen Bedürfnisse keinen Platz bereit stelle (Konformitätszwang vs. pluralitätsfähige Kirche). Die Menschen gehen, weil sie sich im Raum der Kirche mit ihrem Leben nicht mehr gut aufgehoben oder wirklich willkommen fühlen.

Was nun als „aggiornamento“ angestoßen wird, folgt einem Veränderungswillen, der weniger von pastoralen Anliegen als vielmehr von einem ökonomischen Kalkül getragen ist: durch eine kundennahe Marktanalyse soll eine strategische Positionierung ermöglicht werden, um die wichtigen Anteile zu sichern und das ist für das Bistum Essen die Kirchensteuer. Es soll analysiert werden, wie das System, das die Menschen zum Austritt bewegt, durch einen facelift und in der Anwendung wieder attraktiver wird. Es wird offen eine Unternehmensstrategie verhandelt – und das ist aufschlussreich. Auf die empfohlene Identitätsfrage, dem nachzuspüren, was Kirche begründet und (eigentlich) bestimmt, nämlich die Botschaft Jesu Christi, wird kaum eingegangen. Statt darüber auch wieder die spirituellen Fragen stärker in den Fokus zu rücken, werden die Menschen, die (eigentlich) die Kirche ausmachen, zu Konsumenten in einer Verwertungslogik degradiert und objektiviert. Diese Bruchlinie ist eklatant und sie zeigt sich kontrastreich sowohl perspektivisch als auch rhetorisch im Gegenlicht der Studien. Viel zu oft werden dagegen Lamenti wiederholt, man könne nicht mehr die „Fiktion der Normalität“ pflegen und müsse sich vom „Gewohnten und Liebgewordenen“ trennen.

Die Ergebnisse bzw. Empfehlungen aus den Studien bieten, mit der Zeit gegangen und in gewissen Teilen theologisch sehr ansprechend orientiert, darum aber wenig Überraschendes. So ergibt sich in der Zeichnung der Studien ein Vexierbild, das die Auftraggeber, die zugleich die Adressaten sind, mindestens irritieren sollte, wenn Selbstverständlichkeiten wie diese eigens betont und als Aufgabe an die Hand gegeben werden: Kirche müsse, um ihr schlechtes Erscheinungsbild zu polieren, eine symbolische Führungsrolle einnehmen und „eine klare Deutung eines gesellschaftlich relevanten Ereignisses anbieten“, wie es die sog. „Flüchtlingskrise“ darstelle. Damit gehört wiederum die Repräsentation identitätsbildender Narrative zusammen. Den Bischöfen, hier stellvertretend nun mal dem Bischof von Essen, wird empfohlen zu prüfen, „ob er sich zutraut, eine symbolische Führungsrolle […] zu übernehmen und welches Narrativ ihm dabei helfen könnte“ (204 f.) – Nun ja: das eine ist – pardon! – ohnehin Teil der bischöflichen Stellenbeschreibung. Die Frage nach dem tragenden Narrativ trifft genau den Nerv. Dass die Transformationsprozesse, in denen Kirche steckt, schmerzvoll sind, wird allenthalben erfahren, aber sie können nicht mehr weh tun, als die aktuelle Realität, die man tatsächlich stets aufs Neue auf ihren christlichen Markenkern hinterfragen muss. Diese theologische und spirituelle Besinnung ist die erste Antwort auf die im Untertitel gestellte Frage: weniger kirchliche fiction – mehr christliche story.

Rainer Gottschalg, Köln