Jan Niklas Collet, Die Theologie der Befreiung weiterschreiben. Ignacio Ellacuría im Gespräch mit dem dekolonialen und postkolonialen Feminismus (ratio fidei Bd. 83), Verlag Friedrich Pustet Regensburg 2024, 355 S., € 48,–.
Ohne Zweifel zählt Ignacio Ellacuría SJ zu den bekanntesten lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts. Am 16. November 1989 wurde er zusammen mit fünf weiteren Mitgliedern der Gesellschaft Jesu, ihrer Hausangestellten Julia Elba und deren Tochter Celina Ramos von der salvadorianischen Armee ermordet (zur hierzulande längst überfälligen Würdigung der beiden Frauen vgl. J. N. Collet, Im Zentrum des Erinnerns, in: feinschwarz.net, 16.11.2023.). In El Salvador und weit darüber hinaus wird der 1930 im Baskenland geborene Philosoph und Theologe heute als Märtyrer verehrt. Ellacuría hat sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit wie auch in seinen pastoralen Aktivitäten immer von der Option für die Armen leiten lassen.
J. N. Collet, Geschäftsführer des Ökumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche in NRW, fragt in seiner an der Universität Tübingen erstellten systematisch-theologischen Dissertationsschrift – 35 Jahre nach dem bis heute nicht vollständig aufgeklärten und gesühnten Mord – nach der Bedeutung der von Ellacuría initiierten „selbstkritische[n] Öffnung der europäischen Theologie und Kirche für die (post-)koloniale lateinamerikanische Realität.“ (11). Dazu unterzieht er wichtige Schriften des Jesuiten einer kritischen Relecture. Zudem eröffnet er einen substantiellen Dialog mit zwei wichtigen Vertreterinnen des dekolonialen und postkolonialen Feminismus, der argentinischen feministischen Philosophin María Cristina Lugones (1944–2020) und der indischstämmigen Soziologin und Professorin für Gender Studies Chandra Mohanty (* 1955). Beide lehrten bzw. lehren in den USA.
Im ersten der drei Hauptteile seines Buches (26–154) rekonstruiert Collet den befreiungstheologischen Ansatz Ellacurías und seine theoretische Vermittlung, ausgehend von einer vertieften Darstellung der Philosophie Xavier Zubiris (1898–1983), der die primäre theoretische Referenz der Theologie Ellacurías war (vgl. dazu auch meine Rez. in: WuA 53 [2012], 93). Um den bereits in diesem Kapitel bei Ellacuría erkennbaren „weitgehenden Ausfall der Berücksichtigung vergeschlechtlichter Macht-, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse“ (153) zu kompensieren, sucht Collet im zweiten Hauptteil seiner Arbeit (155–274) das „Gespräch mit dem dekolonialen und postkolonialen Feminismus“ (155). Dies geschieht zuerst in separater Behandlung der Ansätze von Lugones und Mohanty, um diese anschließend – nicht zuletzt höchst aufschlussreich mit Bezug auf den argentinischen Philosophen der Befreiung Enrique Dussel (1934–2023) – zueinander sowie zum befreiungstheologischen Konzept Ellacurías hinsichtlich ihrer Methodiken und theoretischen Analysen in ein Verhältnis zu setzen. Im Blick auf Lugones vertritt Collet die These, dass Ellacurías Theologie des neuen Menschen (z. B. in seinem Artikel: Utopie und Prophetie, in: Mysterium Liberationis. Bd. 1, Luzern 1996, 761–787) als „dekoloniale[s] Projekt avant la lettre“ (252) gelten kann. Zugleich jedoch kritisiert er, dass des Jesuiten „Verschweigen oder Nicht-Thematisieren von Geschlechterverhältnissen“ (253) letztlich doch die strukturelle „Dominanz des alten Menschen“ (ebd.) unkritisch weiterschreibe. Im dritten Hauptteil seiner Qualifikationsschrift (277–329), der sich der „Hermeneutik befreiender Theologie in Europa“ (277) widmet, resümiert Collet drei Bereich des Ellacuríaschen Ansatzes: 1. Gegenstand und Methode der Theologie, speziell das Verhältnis von autonomer Begründung und religiöser Deutung (hier scheint deutlich der theologische Ansatz von Collets Erstgutachterin Saskia Wendel durch), 2. ihre theoretische Vermittlung im Rahmen eines dezentralisierten Materialismus, sowie 3. die praktische Vermittlung im Modus einer „befreienden Theologie in Bewegung […] in Sozialen Bewegungen unter dem Gesichtspunkt der grundlegenden epistemischen Option des Ungehorsams und der Solidarität mit dem Leiden der Anderen“ (324). Gerade durch letztere Praxis, die sich durch ein bestimmtes Engagement als Antwort auf eine bestimmte Erfahrung artikuliert (vgl. G. Gutiérrez OP, Theologie der Befreiung, München – Mainz 1986, 213), ließen sich, so die abschließende These Collets, „die gegenwärtigen Debatten um die Fortschreibung politischer Theologie im deutschsprachigen Kontext“ (329) angesichts ihrer „praktische[n] Krise“ (ebd.) fruchtbringend weiterführen. Eine Einleitung zu methodischen Aspekten der Untersuchung insgesamt (11–25), ein ausführliches Literaturverzeichnis (330–353) und die obligatorischen Danksagungen (354f.) ergänzen das Buch.
Ich schreibe die vorliegende Rezension um den 5. Todestag des Begründers der neuen Politischen Theologie, Johann Baptist Metz (1928–2019). Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund markiert die Dissertation von Collet einen höchst wichtigen Beitrag zur kritischen Schärfung politisch befreiender Theologien auch hierzulande. Dafür schuldet ihm die politisch-theologischen Community Anerkennung und Dank.