Stichwort

Jesaja

Das Jesajabuch ist wie auch die übrigen biblischen Schriften kein Buch im herkömmlichen Sinn, sondern eine literarische Kathedrale, die von ca. 700 v. Chr. bis etwa 300 v. Chr. entstanden ist. Damit erübrigt sich die konservative, noch bis ins erste Drittel des vorigen Jahrhunderts von der Päpstlichen Bibelkommission vertretene Ansicht, die gesamte Schrift stamme vom Propheten Jesaja ben Amoz als alleinigem Autor. Doch auch die besonders durch den protestantischen Alttestamentler Bernhard Duhm in seinem epochalen Jesaja-Kommentar aus dem Jahre 1892 vorgeschlagene Lösung von drei Büchern aus drei Epochen (Protojesaja Jes 1–39 aus assyrischer Zeit; Deuterojesaja Jes 40–55 aus babylonischer Zeit; Tritojesaja Jes 56–66 aus persischer Zeit) kommt seit ca. 30 Jahren immer stärker unter Druck. Für eine solche scharfe Trennung zwischen den einzelnen Teilen sind die Querverbindungen zu stark und die innerjesajanischen Schriftverweise zu zahlreich. Zudem geht kein anerkannter Exeget mehr davon aus, dass z. B. Jes 24–27, die sogenannte „Apokalypse“, aus assyrischer Zeit stamme, sondern dieser Text gehört in die spätpersische, wenn nicht gar in die frühhellenistische Periode. Die simple Gleichung, alles, was vorne im Buch stehe, sei älter als das, was danach komme, geht so nicht mehr auf, auch wenn die ältesten Texte tatsächlich in den vorderen Kapiteln (bes. Jes 6–8) zu finden sind. Das Jesajabuch ist nicht die Summe seiner Einzelteile, sondern ein literarisches Drama, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Jerusalems und Zions zum Hauptgegenstand seiner vielfältigen Inszenierungen hat. Für diese Letztgestalt zeichnen schriftkundige Autoren verantwortlich, die in großer Nähe zu levitischen Sängergilden zu verorten sind. Von daher ist es kein Zufall, dass „Jesaja“ und der „Psalter“ viele Gemeinsamkeiten aufweisen, so die Auffassung von der weltumspannenden Königsherrschaft JHWHs (vgl. Ps 93–100; Jes 6,1; 24,23; 52,7), die Rede vom „neuen Lied“ (Jes 42,10; Ps 33,3; 40,4; 96,1; 98,1; 144,9; 149,1) und von Zion als dem Zentrum einer Kultgemeinde aus Israel und den Völkern (vgl. Ps 87; Jes 2,2–4; 60,3f; 66,18–23).

Kanonischer Dissens

Die Provokation, die aus einer solchen völkeroffenen Israelvorstellung resultiert, macht Jes 56,1ff. deutlich, wo von der Zulassung von Fremden und sogar von Kastraten die Rede ist, an denen der Bund der Beschneidung gar nicht mehr vollzogen werden kann. Das priesterliche Prophetenbuch Ezechiel, in dem an keiner einzigen Stelle das Wort „Zion“ vorkommt, hat das genau verstanden und darauf mit aller Schärfe reagiert: „Fremde, die unbeschnitten sind am Herzen und unbeschnitten am Körper, sie habt ihr eintreten lassen, sie waren in meinem Heiligtum und haben meinen Tempel entweiht, wenn ihr mir meine Opferspeise, Fett und Blut, dargebracht habt. So habt ihr mit all euren Gräueltaten meinen Bund gebrochen“ (Ez 44,7). Was für ein Kontrast zur Ankündigung aus dem Munde Gottes in Jes 56,7, auch die Opfergaben der Fremden seien wohlgefällig auf seinem Altar, „denn mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden“. An diesem Beispiel wird deutlich, wie die prophetischen Bücher einen polyphonen Diskurs über die nachexilische Israel-Existenz als Gottesvolk unter den Völkern anstoßen. Überhaupt ist das Paradigma der biblischen Schriften des AT und NT nicht etwa seichter Konsens, sondern kanonischer Dissens, der dauerhaft zur Auseinandersetzung und eigener Positionierung herausfordert.

Die überaus starke Zentrierung des Jesajabuches auf die Königsherrschaft JHWHs vom Zion aus, die auf die Völkerwelt einladend ausstrahlt (vgl. Jes 2,1–4; 12,1–6; 25,6–8; 32,1–5; 40,1–11; 52,7–12), lässt die Figur des davidischen Sprosses in den Hintergrund treten. So ist es kein Zufall, dass sich das sogenannte „messianische Triptychon“ in Jes 6; 9; 11 im vorderen Teil der Schrift befindet, wobei der erste Text in Grundzügen aus der Zeit Jesajas stammt, der mittlere aus der Endphase der assyrischen Herrschaft (im Hintergrund steht wohl König Joschija, der im Jahre 640 v. Chr. achtjährig auf den Thron kam; vgl. 2 Kön 22) und der letzte aus der persischen Zeit mit deutlich messianischen Hoffnungszügen. Ein „David redivivus“ wird im Jesajabuch in seiner Endgestalt aber nicht erwartet, denn was sollte auch dessen Funktion sein, wenn JHWH auf dem Zion für alle Völker sein Festbankett eröffnet? Zudem wird in Jes 45,1 der Perser Kyrus von JHWH als Messias, als „mein Gesalbter“ bezeichnet, was mit einer davidischen Restaurationsidee unvereinbar ist!

„Jeschajahu“ – JHWH rettet!

Aber wie konnte diese prophetische Schrift eine solch hohe Erwartung für Jerusalem und den Zion als sein innerstes Wesenszentrum hegen, wo doch die Gottesstadt nach der Zerstörung durch die Babylonier im Jahre 587 v. Chr. völlig am Boden lag? Das Buch der Klagelieder gibt darüber dichterisch-dramatische Auskunft und noch Nehemia ist in der Mitte des 5. Jhd. v. Chr., also fast einhundert Jahre nach der Rückkehrmöglichkeit durch den Perser Kyrus, erschüttert über den Zustand von Stadt und Mauern (Neh 2,11–18). Diese Trümmerstätte soll das Zentrum der Völkerwallfahrt sein (Jes 2,1f.), zu dem die Nationen ihre Schätze zuhauf und freiwillig bringen (Jes 60,1f.)? Hatte der Gott Israels seine Tempelstadt nicht vor dem Ansturm des Babyloniers Nebukadnezzar verlassen und seinen marodierenden Soldaten preisgegeben (vgl. Ps 79), die Krone des davidischen Königs zu Boden getreten (Ps 89,39f.)? Die abgrundtiefe Enttäuschung darüber ist nicht verschwiegen, sondern als Braut JHWHs und Mutter ihrer exilierten Kinder klagt Zion ohne Zurückhaltung: „Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen“ (Jes 49,14). So einfach lassen sich Trost und Tröstung nicht propagieren (vgl. Jes 40,1f.), wenn die Wunden und Verwundungen der Vergangenheit noch allzu sehr schmerzen.

Um Jerusalem und Zion in der schweren Zeit des Nachexils überhaupt noch theologisch fruchtbar machen zu können, schieben die Kompositoren der Jesaja-Schrift die Ereignisse der Zerstörung und Exilierung in den Hintergrund und setzen an die Stelle der Eroberung durch Nebukadnezzar im Jahre 587 v. Chr. (vgl. 2 Kön 25; Jer 52) die wundersame Rettung der Gottesstadt vor dem Angriff des Assyrers Sanherib aus dem Jahre 701 v. Chr. So übernehmen sie die theologisierte Geschichtsschreibung aus 2 Kön 18–20 und setzen sie mit wenigen, aber wichtigen Detailveränderungen in Jes 36–39 ein. Natürlich bezahlt König Hiskija jetzt keinen Tribut an den Assyrer (anders 2 Kön 18,14–16), sondern vertraut ganz auf die Hilfe seines Gottes. Diese Kapitel sind trotz ihrer Übernahme aus den Königsbüchern kein Fremdkörper im Jesajabuch, sondern stellen dessen theologische Mitte dar. Assurs Hochmut, der exemplarisch für die Großmannssucht der feindlichen Nationen steht, zerschellt an JHWH, der seine Gottesstadt und damit sein Weltkönigtum nicht den Lästerern preisgibt. Der Angriff auf Jerusalem und Zion war ein Angriff auf das Gottsein JHWHs selbst (vgl. 2 Kön 19,9–19; Jes 37,9–20) und wäre er erfolgreich gewesen, hätte das den Namen dieses prophetischen Buches ad absurdum geführt: „Jeschajahu“ – JHWH rettet!

Gefährdung von innen

Dass alle außenpolitischen Feinde mit Assur am Zion zerbrochen sind, bedeutet aber nicht, dass es keine Gefährdung der Gottesstadt mehr gäbe. Nur kommt sie nicht mehr von außen, sondern von innen, von jenen, die sich sowohl im sozialen als auch im kultischen Verhalten als Feinde Gottes erweisen. Dies ist das Grundthema des letzten Großteils der Jesaja-Schrift. Zum „Lumen gentium“ können Zion und Jerusalem nur dann und insofern werden, wenn dort JHWH-Verehrung und soziale Gerechtigkeit zueinander finden. So ist es kein Zufall, dass vor der großen Lichtvision der Kapitel 60–62 die heftige prophetische Kritik einen zentralen Platz einnimmt (Jes 56,9f.). JHWH kommt nur zu denen als Retter und Erlöser, die von der Sünde in Jakob umkehren (59,20). Wer sich einer solchen Umkehr verweigert, gehört nicht zu Jakob, sondern zum feindlichen Zwillingsbruder Esau, dem Stammvater der Edomiter, gegen die JHWH mit aller Härte als Keltertreter vorgeht (Jes 63,1f.; vgl. Jes 34). Segen dagegen liegt auf den Knechten Gottes, die ganz auf JHWHs Hilfe und Unterstützung bauen (Jes 65–66). Sie bilden die Nachkommenschaft des Gottesknechts, der sich bereits in exilischer Zeit für JHWH und sein Volk verzehrte (Jes 53). Die Spannung zwischen Gerechten und Frevlern ist ähnlich groß wie im Psalter und entlädt sich im letzten Vers des Buches, der ankündigt, die Leichen der Gottesgegner würden als Ekel für alle Welt zur Schau stehen (Jes 66,24). Dieser Vers ist so schrecklich, dass in der synagogalen Lesung der positive vorletzte Vers wiederholt wird: „Neumond für Neumond und Sabbat für Sabbat wird alles Fleisch kommen, um sich vor mir niederzuwerfen, spricht JHWH“ (Jes 66,23). Selbst die größten Heilsankündigungen scheinen in biblischer Weltsicht nicht ohne Gewaltphantasien auszukommen, was zu weiteren Reflexionen herausfordert, die keineswegs nur die alttestamentlichen Schriften betreffen.

Literatur

Ulrich Berges, Jesaja. Der Prophet und das Buch (Biblische Gestalten Bd. 22), Leipzig 32018.

Ulrich Berges/Willem Beuken, Das Buch Jesaja. Eine Einführung (UTB 4647), Göttingen 2016.

Der Autor

Dr. theol. Ulrich Berges (uberges@uni-bonn.de), geb. 1958 in Münster/Westf., Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Anschrift: Regina-Pacis-Weg 1a, D-53113 Bonn. Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Willem Beuken), Das Buch Jesaja. Eine Einführung (UTB 4647), Göttingen 2016.

Wort und Antwort 59 ( 2018), 146–149 | DOI 10.14623/wua.2018.4.146-149