Stichwort

Gender Trouble in der Kirche?

Die Vokabel Gender provoziert. In rechten politischen Gruppierungen und Netzwerken, aber auch in manchen katholischen Kreisen ruft sie schroffe Ablehnung hervor.

Eine heterogene Gruppe von Personen sammelt sich zum Kulturkampf gegen das, was sie „Genderismus“, „Gender-Ideologie“ oder auch „Gender-Wahn“ nennt. Die Abwehr des Gender-Konzepts verbindet ganz unterschiedliche Menschen. Nicht selten wird Gender dabei zum Sammelbegriff für alles, was mit Geschlechterpolitik, mit Gleichstellung von Frauen, mit Feminismus, mit veränderten Konzepten von Männlichkeit, mit Homosexualität und vielem mehr zu tun hat. Auch Papst Franziskus äußert sich immer wieder ablehnend zu einer angeblichen „Gender-Ideologie“, die er als eine der „gefährlichsten ideologischen Kolonisationen“1 sieht.

Während bei den Päpsten von Pius XII. bis Johannes Paul II. die „Frauenfrage“ noch als soziale, politische und innerkirchliche Herausforderung ernstgenommen wurde, wird sie während des Pontifikates Papst Benedikts XVI. zur „Gender-Ideologie“, einer Ideologie, die eine existentielle Bedrohung für Moral und Gesellschaft darstellt. Diese Leseart einer maßgeblich mit Gender zusammenhängenden Krise der Moral hat sich inzwischen verselbständigt und auch außerhalb der katholischen Kirche viele Anhänger gefunden.

Ist Judith Butler an allem schuld?

Der Pauschalkritik vieler katholischer Denker an den Werken und Aussagen der US-amerikanischen Kulturtheoretikerin Judith Butler kann man nur entgegentreten.

Man muss darauf hinweisen, dass mit Butlers – ursprünglich linguistischer – Unterscheidung von sozialem (Gender) und biologischem (Sex) Geschlecht keineswegs biologische Tatsachen geleugnet werden. Die in den „genderkritischen“ Kreisen gern bemühte Behauptung, nach Butler würde das Geschlecht zur frei wählbaren sozialen Konstruktion, darf man so nicht stehen lassen. Butlers These ist erkenntnistheoretisch zu begreifen.

Gender als Unterscheidungsmerkmal

Gender ist nach wie vor ein Unterscheidungsmerkmal, das – ebenso wie Alter, Religion oder etwa Hautfarbe – Gesellschaften strukturiert und hierarchisiert. Unsere Geschlechterrolle ist geprägt durch Kultur und Konventionen, aber auch durch unsere Entscheidungen wie etwa die Berufswahl.

Lässt man die polemischen Attacken gegen die vermeintliche „Gender-Ideologie“ einmal außer Acht, so steht dennoch häufig die Frage im Raum, wo der Gender-Ansatz an seine Grenzen stößt. Käme jemand auf die Idee zu fragen, wo die Kategorien „Alter“ oder „sozio-ökonomische Lage“ ausgereizt seien? Im politischen Alltagsgeschäft ist es selbstverständlich, dass sie jeweils kontextuell und nicht losgelöst von anderen Faktoren zu betrachten sind.

Dies ist bei Gender nicht anders: Das soziale Geschlecht eines muslimischen Mädchens in Deutschland ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderes als im Iran – und ein anderes als das der deutschen Mitschülerin. Für einen körperlich beeinträchtigten Mann können Zuschreibungen von Männlichkeiten eine sehr viel unmittelbarere Wirkmächtigkeit haben als bei einer nichtbehinderten Person. Die Kategorie Gender eröffnet die Chance, unsere soziale Wirklichkeit differenziert wahrzunehmen – eine unabdingbare Voraussetzung für jedes gesellschaftspolitische und kirchliche Handeln!

Gender-Diskurse müssen deshalb in der katholischen Kirche geführt werden, weil das Kirchenvolk keine geschlechterhomogene Masse ist. Gläubige suchen als Mütter und Großmütter, als wiederverheiratete Frauen oder alleinerziehende Väter, als Jungverheiratete, Verpartnerte oder Verwitwete, aber auch als sich im polaren Geschlechterspektrum nicht eindeutig Wiederfindende in der Kirche Antworten auf ihre spezifischen Fragen und erhoffen Trost und Zuspruch. Sie alle verbindet, dass sie ihren Glauben in und mit der Gemeinde leben wollen.

Ohne Dialog droht Polarisierung

Wir, als katholische Kirche, brauchen einen Dialog von Theologie und Ethik mit den Gender-Theorien. Für diese Diskussion ist es allerhöchste Zeit, denn das Thema trägt massiv zur allgemeinen Polarisierung bei. Der Rechtsruck in den westlichen Gesellschaften findet wesentlich entlang von Gender-Debatten statt. Dass Teile der katholischen Kirche sich dabei – wieder einmal – im gleichen Boot mit den Reaktionären sitzend wiederfinden, ist eine besorgniserregende Beobachtung.

Queersensible Seelsorgeperspektive

Neben dieser wirklich offenen und wissenschaftlichen Diskussion brauchen wir eine Vertiefung queersensibler Seelsorgeperspektiven. „Lange ist in theologischen kirchlichen Debatten lediglich über queere Menschen gestritten worden. Es ist an der Zeit, sie in Theologie und Seelsorge als Subjekt und Expert:innen ihrer eigenen Lebensgeschichten ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören.“2 Wir sollten nicht nur kirchenpolitisch-strukturelle Auseinandersetzungen thematisieren, sondern – vielleicht ganz besonders – auch das Augenmerk auf die konkreten Menschen und die Praxis legen, ohne gesellschaftliche Aspekte unzulässig auszuklammern.

Eine queer-freundliche Gemeinde greift spezifische Themen z. B. in der Liturgie oder in der Alltagspraxis auf und bindet die Lebenswirklichkeit von queeren Menschen in die Gottesdienstgestaltung mit ein. In Gebeten, Fürbitten und Predigten werden queere Menschen nicht nur „mitgemeint“, sondern explizit benannt und beteiligt. Eine offene Gemeinde fördert durch Vorträge, Gesprächskreise oder Filmabende über queere Lebensformen einen aktiven Austausch und schafft wachsende Akzeptanz für Vielfalt. Auch die persönliche Beratung und Seelsorge wird achtsam für queere-Menschen gestaltet.

Eine offene Gemeinde hilft aktiv dabei, Vorurteile abzubauen, Diskriminierung zu verhindern und Akzeptanz für verschiedene Lebensformen zu verankern. Sie stellt sich bewusst der Aufgabe, christliche Gemeinschaft mit all ihrer Vielfalt in Frieden leben zu können. Daher bekennt sich eine christliche Gemeinde klar und deutlich zu einem offenen Willkommen und einem Umgang auf Augenhöhe mit allen Menschen – eben auch mit queeren Menschen. Im gelebten Miteinander festigt eine offene Gemeinde ihren Zusammenhalt, sie wird bunter und vielfältiger. Im gemeinsamen Dialog schafft sie Brücken, wo Unterschiede sein dürfen und macht das Gemeindeleben reicher, menschlicher und lebensnah. Nicht zuletzt wird sie damit attraktiver für Neue und bislang Fernstehende.

Wo Diversität und die Vielfalt von Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit anerkannt und als Bereicherung wahrgenommen wird, da baut Kirche an ihrer Zukunft.

Fußnoten

1 So Papst Franziskus in einem Interview der argentinischen Tageszeitung „La Nación“ am 10.03.2023.

2 K. Söderblom, Queersensible Seelsorge, Göttingen 2023, 17.

Der Autor

Msgr. Ludger Schepers, Lic. iur. can. (weihbischof.schepers@bistum-essen.de), geb. 1953 in Oberhausen, Weihbischof im Bistum Essen. Anschrift: Zwölfling 16, 45127 Essen.