Gert Melville / Jörg Sonntag (Hrsg.), Mechanismen des Innovativen im klösterlichen Leben des hohen Mittelalters (Klöster als Innovationslabore. Studien und Texte Bd. 12), Verlag Schnell & Steiner Regensburg 2023, 312 S., € 39,95.
Wie kommt Neues in die Welt? Und welche Rolle spielten im 12. und 13. Jahrhundert dabei die Orden? Soviel ist klar: Im hohen Mittelalter avancierten Klöster zu bedeutenden Vordenkern und Impulsgebern gesellschaftlicher Neuerungen. Dabei entstanden u. a. Leuchttürme des technischen Fortschritts, ein neuer Umgang mit Schrift, ein neuartiges Statutenrecht oder geregelte Verfahren. Die Klöster sammelten und ordneten in ihren Bibliotheken verfügbares Wissen über Jenseits und Diesseits. Auf diese Weise wurden sinnstiftende Weltdeutungen generiert, die mit ihren Ordnungsentwürfen gesellschaftlich wirksam werden sollten. So schufen oder beeinflussten die klösterlichen Innovationen politische Organisationsformen und deren normative Strukturen sowie Denkmuster innerhalb wie außerhalb der Kirche.
Diese und damit zusammenhängende Aspekte der Innovationskraft des mittelalterlichen Ordenslebens erforschen die beiden Historiker und Herausgeber des hier vorzustellenden Buches, J. Sonntag, Arbeitsstellenleiter im Projekt „Klöster im Hochmittelalter“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Dresden, und G. Melville, Projektleiter ebendort und zugleich Direktor der Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG). Der gewichtige Band versammelt zwölf Artikel ausgewiesener Fachleute, die vier verschiedenen Sektionen zugeordnet wurden. Im ersten Teil behandeln Carmen Cardelle de Hartmann, Mirko Breitenstein und Matthias Untermann „Manifestationen von Innovationen“ (11–99). Den Autor:innen geht es hier um die mediale Gestalt der Neuerungen bspw. in der Schrift, ihre Verbreitung in Raum und Zeit, ihre Materialwerdung in der Architektur und ihre begriffliche Fassung (einschließlich der Nutzung des Innovationsbegriffs als Kampfbegriff). Die drei Texte der zweiten Sektion aus den Federn von Julia Becker/Marcus Handke, Fiona Griffiths und Guido Cariboni widmen sich den „Grundbedingungen des Innovativen“ (101–163) und behandeln das Spannungsgefüge zwischen Individuum und Gemeinschaft, nicht zuletzt auch unter der Genderperspektive. „Exemplarische Felder der Innovation“ breiten die vier Beiträge von Rainer Berndt, Karin Ganss, G. Melville und Jens Röhrkasten im dritten Teil des Buches aus (165–279). Dazu zählen die Autor:innen die Liturgie und ihr Symbolsystem, das Eigenrecht der Orden sowie ihre jeweiligen Wirtschaftssysteme vor dem Hintergrund des Gelübdes der Besitzlosigkeit. In der abschließenden vierten, heuristisch ausgerichteten Abteilung untersuchen Steven Vanderputten und Romedio Schmitz-Esser den systematischen Themenkomplex „Innovation im kulturellen System“ (281–308). Besonders faszinierend ist dabei die Auseinandersetzung mit der Rolle des Zufalls wie auch mit dem Phänomen der Grenze (Stichwort: Häresien) im Gesamt von religiösen Innovationsprozessen. Ein einführendes Vorwort der Herausgeber, eine Liste der 19 zumeist farbigen Abbildungen und ein nach Namen und Orten aufgeteiltes Register ergänzen den Band.
Der Fokus der Beiträge liegt interessanterweise nicht auf den klösterlichen Innovationsleistungen selbst. Untersuchungen dazu sind u. a. in der im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegebenen Reihe „Klöster als Innovationslabore“ zu finden. Vielmehr fragt der vorliegende Sammelband danach, in welchen Systemzusammenhängen Innovationen im klösterlichen Leben funktionierten, d. h. warum sie entstanden und wie sie gefördert, getragen, gehemmt oder vernichtet wurden. Wer an solchen fächerübergreifenden und vergleichenden Forschungen zur Innovationskultur der mittelalterlichen Ordensgemeinschaften historisch und systematisch interessiert ist, dem:r sei die Lektüre des theoretisch anspruchsvollen und deshalb höchst werthaltigen Bandes unbedingt empfohlen.