Raphael Weichlein, Gott denken – Wunschdenken? Religionsphilosophie im Gespräch mit Holm Tetens (Berliner Bibliothek. Religion – Kultur – Wissenschaft Bd. 11), Peter Lang Berlin 2022, 187 S., € 42,95.
Kann man heute noch ernsthaft – und das heißt: rational verantwortet – von Gott sprechen? Für die meisten Zeitgenoss:innen ist der Glaube an einen personalen Gott kaum noch nachvollziehbar. Von der klassischen Religionskritik wurde er längst schon als Projektion und Produkt reinen Wunschdenkens entlarvt. Gegenläufig zu kritischer Tradition und aktuellem Zeitgeist widmet sich R. Weichlein, Wiss. Mitarbeiter (Philosophie) an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Augsburg und Doktorand ebendort, in seinem neuen Buch der Aufgabe, eine theistische Position – genauer: den Glauben an Gott – als sinnvolle Option (Charles Taylor), d. h. als eine angemessene, rational zu rechtfertigende Möglichkeit der Weltdeutung zu erweisen.
Referenz ist ihm bei seinem Unterfangen der inzwischen emeritierte Berliner Philosoph Holm Tetens. Dieser unterzog vor gut zehn Jahren seine bis dahin naturalistisch-religionskritische Position einer radikalen Korrektur (vgl. H. Tetens, Gott denken. Ein Versuch über Rationale Theologie, Stuttgart 2013). Weichlein greift Tetens’ Argumentationsfaden auf und rekonstruiert die erkenntnistheoretische Rechtfertigung des voluntativen Moments im weltanschaulichen Kontext religionsphilosophisch. Im Anschluss an Willard Van Orman Quine (1908–2000), John Henry Newman (1801–1890) und William James (1842–1910) kann er zeigen, dass Wirklichkeit sich immer nur perspektivisch erschließen lässt. Der dazu nötige Theorierahmen ist aber nicht einfach vorgegeben, sondern muss gewählt werden. Diese voluntative Gegebenheit führt den Verf. zu der Einsicht, dass auch andere Perspektiven mitsamt ihren jeweiligen Theorieannahmen ihre Berechtigung haben können. Somit ergibt sich vor dem Panorama dieser „epistemischen Mehrdeutigkeit“ (107) im Blick auf die Rechtfertigungsfrage ein „Rechtfertigungspluralismus“ (ebd.), der weder eine naturalistische noch eine theistische Position von vornherein ausschließen kann.
Wie weit die hier in Anschlag gebrachte Betonung des Willens (voluntas) gegen einen kognitiven Ansatz steht, diskutiert Weichlein kurz im Blick auf die mittelalterliche Gegenüberstellung „von einem franziskanischen und einem dominikanischen Ansatz“ (109). Während ersterer – zumindest nach Auffassung der von Weichlein herangezogenen US-amerikanischen Religionsphilosophin Eleonore Stump (*1947) – einen eher subjektiv kodierten „personalen Zugang“ (ebd.) zu Gott biete (Gewährsmann ist Duns Scotus) und aufgrund seiner emotionalen Struktur heute anschlussfähiger sei, war die dominikanisch-intellektualistische Sicht auf Gott zwar in der katholischen Kirche lange Zeit theologisch schulbildend (Thomas von Aquin), sei jedoch dem eher erfahrungsbezogenen modernen Bewusstsein heute kaum noch nachvollziehbar. Nur in einer Fußnote deutet Weichlein an, dass an dieser Stelle auch ein katholisches et et (sowohl als auch) im Sinne eines cogito et amor weiterführen könnte. M.E. bedarf ein rational(!) verantworteter Gottesglauben (den Weichlein ja zu rechtfertigen sucht), nicht nur des voluntativen Zugangs zur Gotteserfahrung, sondern ebenso und gerade auch des intellectus.
Eine fundamentaltheologische Würdigung des Tetens’schen Ansatzes wie auch eine Auflistung weiterführender Fragen beschließen Weichleins Untersuchung. Ergänzt wird sie durch ein kontextualisierendes Geleitwort des Berliner Philosophen und Reihenherausgebers Thomas Brose (13–19), einen Aufsatz des Verfs. zu einer rationalen Soteriologie und damit zur spannenden Frage der Theodizee (119–146), durch einen Literaturbericht zu den Diskussionen, die Tetens’ metaphysikfreundliche Wende ausgelöst hat (147–167), sowie durch eine recht umfangreiche Bibliographie (169–183) und ein hilfreiches Personenregister (185–187).
Weichleins schmale, noch nicht einmal 100 Seiten umfassende kluge Studie möge all diejenigen, die im Kontext einer nachchristlichen Gesellschaft Rechenschaft geben wollen über die Hoffnung, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15), zum Denken anregen.