Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh). Bd. 38 (2023): Mystik, hrsg. von Samuel Vollenweider und Volker Leppin, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen 2024, 503 S., € 69,–.

Weder sind sich die Autor:innen des voluminösen Bands einig, ob Mystik überhaupt ein biblisches Thema sei, noch darüber, was Mystik denn überhaupt sei. Dementsprechend bietet das Jahrbuch keine feste Definition von „Mystik“. Vielmehr suchen die 21 Artikel des von S. Vollenweider (Neutestamentler an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich) und V. Leppin (Kirchenhistoriker an der Yale Divinity School, New Haven CT, USA) verantworteten Bandes nach Argumenten und Hinweisen, die in biblischen Texten und ihrer Rezeption begegnen. Zum Auftakt präsentiert Christoph Auffarth (Bremen) religionswissenschaftliche Annäherungen an das Thema „außerordentliche Erfahrungen“ (17). Dazu passt auch der höchst interessante systematisch-theologische Beitrag von Jörg Lauster (München), der im Spannungsfeld von Mystik und Transzendenz eine „Theorie der religiösen Erfahrung“ (399) zu entwickeln sucht. Franz Sedlmeier (Augsburg) eruiert, ob Ezechiel als Mystiker gelesen werden kann. Leichter fällt es Ludger Schwienhorst-Schönberger (Wien), mystische Spuren in der ersttestamentlichen Weisheitsliteratur auszumachen. Michael Theobald (Tübingen) nähert sich der Johannes-Minne (Joh 12,23) über ihre Rezeptionsgeschichte an. Ähnlich geht auch S. Vollenweider vor, wenn er „[d]ie Mystik des Apostels Paulus“ (185) über den Umweg Albert Schweitzer erschließt. Nachklänge biblischer Mystik-Motive in Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte sowie in der Systematischen Theologie untersuchen beispielsweise V. Leppin (mittelalterliche Passionsmystik als Aneignung und Auslegung der Bibel), Stefan Michels (Frankfurt/M.) im Blick auf J.S. Bachs Matthäuspassion oder Andreas Odenthal (Bonn) in der Spur von Henri de Lubac SJ und Michel de Certeau SJ. Wenn Mystik noch nicht Theologie ist, dann kann Mystik zu einer „Herausforderung für die Theologie“ (419) werden, wie Saskia Wendel (Tübingen) im Anschluss an Meister Eckhart aufzeigt. Dabei entfaltet sie drei Herausforderungen: 1. die „[u]nmittelbare Erkenntnis Gottes“ (420) als Kernelement mystischen Erfahrens, 2. die monistische bzw. pan(en-)theistische „Einheit von ‚Gottesgrund‘ und ‚Seelengrund‘“ (424), sowie 3. den Gedanken des Zusammenhangs von „[i]mmerwährende[r] Schöpfung – immerwährende[r] Inkarnation“ (426). Wendel plädiert dafür, die drei Herausforderungen trotz aller tradierten Skepsis theologisch anzunehmen und so eine „Transformation angestammter theologischer Überzeugungen“ (428) zu ermöglichen. Diese könnten offen sein 1. für einen religionsum- und -übergreifenden Offenbarungsbegriff, 2. für transpersonale Momente im Gottesverständnis, und 3. für den Gedanken, „das ganze Universum schon als Gottes universale Verkörperung“ (429) zu verstehen. Mystik – auch oder gerade, wenn sie nicht streng definiert wird – eröffnet neue theologische Denkhorizonte. Allein das macht das (biblische?) Phänomen Mystik so spannend und das vorliegende Jahrbuch so lesenswert!

Ulrich Engel OP, Berlin