Marian Füssel, Zur Aktualität von Michel de Certeau. Einführung in sein Werk (Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler/-innen), Springer VS Wiesbaden 2018, 203 S., € 24,99.

Der französische Jesuit Michel de Certeau (1925–1986) war ein Grenzgänger: zwischen Theologie und Psychoanalyse, Geschichte und Politik, Wissenschaft und Alltag. M. Füssel, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Göttingen, präsentiert mit seinem lange erwarteten Buch eine hoch spannende Einführung in das Denken Certeaus, welches heute als ein bedeutender Referenzpunkt für so unterschiedliche Ansätze wie die Cultural Studies, die postmoderne Theologie, die neue Kulturgeschichte oder Theorien des Postkolonialismus gilt. Anhand der wichtigsten Schriften des Jesuiten – u. a. „Kunst des Handelns“ (I: dt. 1988; II. franz. 1994), „Die mystische Fabel“ (I: dt. 1982; II. franz. 2013) – erläutert Füssel zentrale Konzepte und Begriffe des Certeauschen Ansatzes.

Ein einführendes Kapitel rekonstruiert die Lebensgeschichte Certeaus und die (im deutschen Sprachraum übrigens erst spät realisierte) Rezeption seines Werks in Europa, den USA, Lateinamerika und Afrika. Die Abschnitte 2 und 6 befassen sich mit Certeaus theologischem Ansatz. Dieser setzt an bei den Erfahrungen von Verlust und Vermissen, symbolisiert im Bild des leeren Grabes. Und genau in dieser Leerstelle gründet das Mystikverständnis des Jesuiten. In seinem wissenschaftlichen Werk insgesamt und in der „Mystischen Fabel“ im Besonderen befasste sich Certeau immer wieder und schwerpunktmäßig mit der frühneuzeitlichen Mystik des 16. und 17. Jahrhunderts: mit seinem Ordensbruder Jean-Joseph Surin SJ (1600–1665) sowie mit den karmelitanischen Ordenschristen Teresa von Ávila (1515–1582), Johannes vom Kreuz (ca. 1542–1591) und Diego de Jesús (1570–1621). Dabei versteht Certeau das 16. und 17. Jahrhundert als die Zeit eines epochalen Wandels im Selbstverständnis der Menschen. Die gewaltigen Umwälzungen der Moderne forderten die frühneuzeitlichen Mystiker dazu heraus, angesichts des Verlustes von Althergebrachtem nach neuen Wegen für den christlichen Glauben zu suchen. Genau diese Geste des Suchens im Ungewissen verleiht dem Denken Certeaus speziell zum Beginn des 21. Jahrhunderts höchste Relevanz. In mikrohistorischer Hinsicht untersuchte Certeau „Orte des Anderen“ (Kapitel 3) als Erkenntnisquellen; diese Arbeit wiederum ermöglichte ihm, Meta-Geschichte als „Abwesenheit der Geschichte“ (Abschnitt 4) zu begreifen. In Kapitel 5 widmet sich Füssel den alltagsanthropologischen Beobachtungen und den daraus hervorgehenden Diskursen des Jesuiten um Macht und Politik. Teil 7 schließlich fragt abschließend noch einmal nach der Aktualität Certeaus als dem Autor einer „‚andere[n]‘ Geschichte der Moderne“.

Ein unbedingt empfehlenswertes Buch über einen hoch aktuellen Querdenker!

Ulrich Engel OP, Berlin – Münster