Stichwort
Darf Recht ungerecht sein?
Glaubt man einer Umfrage, die im „Focus“ im Jahr 2021 veröffentlicht wurde, hielten 55 % der etwa 1.300 Befragten Urteile deutscher Gerichte als allgemein zu milde, sogar 58 % empfanden die Rechtsprechung als uneinheitlich.1 Ersichtlich wird daran, dass gesprochenes Recht als ungerecht empfunden werden kann: als zu lasch oder zu streng, als unverhältnismäßig in Bezug auf das Leid der Geschädigten. Die intuitive Annahme hinter dieser Empörung lautet, dass das Recht auch gerecht sein muss. Aber muss es das? Oder etwas zugespitzter formuliert: Darf Recht auch ungerecht sein? Formuliert man diese Problemstellungen allgemeiner (und abstrakter), lässt sich fragen, in welchem Verhältnis Recht und Gerechtigkeit zueinander stehen. Unbestritten liegt damit ein großes, wenn nicht das zentrale Thema der Rechtsphilosophie vor, das hier nur anhand ausgewählter Schlaglichter betrachtet werden kann.2
Was ist Recht und welche Funktion(en) hat es?
Dazu sollen zunächst die begrifflichen Grundlagen untersucht werden. Was beschreibt der Begriff des Rechts überhaupt? Wenn man einer weiten Definition folgt, kann man Recht als ein „soziales (…) Regelsystem“3 verstehen. Rechtliche Normen werden von anderen, wie bspw. sozialen oder moralischen Normen, darin unterschieden, dass sie bei Nichtbefolgen durch den Staat sanktioniert werden.4 Solche staatlichen Zwangsakte können z. B. zivilrechtlich eine Schadensersatzleistung oder strafrechtlich eine Geld- oder Freiheitsstrafe darstellen.5 Die rechtlichen Normen werden in festgeschriebenen Akten gesetzt und sind dann ‚positives‘ Recht.
Die hauptsächliche Funktion des Rechts besteht darin, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem Konflikte geregelt und friedlich zwischen Rechtssubjekten ausgetragen werden können. Damit es diese Funktion erfüllen kann, muss es Grundsätzen der Gerechtigkeit genügen. Die anfänglich benannte Intuition, dass Recht auch gerecht sein muss, könnte man mit diesen Ausführungen also bestätigen: Recht hat als Zielperspektive immer auch die Gerechtigkeit.6 Worin genau besteht also die rechtsphilosophische Kontroverse um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit?
Eine der Auseinandersetzungen behandelt die Fragestellung, ob und warum rechtliche Normen überhaupt Geltung beanspruchen können.7 Gelten sie nur dann, wenn sie auch gerecht sind? Oder nur dann, wenn sie auch akzeptiert werden? Oder müssen sie lediglich rechtmäßig gesetzt worden sein?8 Das ist nicht nur eine rein theoretisch-philosophische Diskussion, denn entsprechend der Gewichtung dieser drei Ebenen ergeben sich unterschiedliche Konflikte.
Zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit?
Geht man davon aus, dass für die Geltung von Normen allein die rechtmäßige Setzung und soziale Wirksamkeit relevant sind (‚Rechtspositivismus‘9), schafft man einen hohen Grad an Rechtssicherheit10, weil sich die rechtsanwendenden Personen darauf verlassen können, dass die entsprechenden Gesetze unbedingt gelten – auch rückwirkend.11 Problematisch ist das jedoch, wenn dieses Recht selbst in erheblichem Maße ungerecht wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg beriefen sich viele Personen, die Gräueltaten verübt hatten, darauf, dass sie sich nur an Recht und Gesetz gehalten hätten. In der Tat war es nicht leicht, eine Möglichkeit zu schaffen, diese Menschen zu verurteilen, wenn sie sich an das im nationalsozialistischen Deutschland rechtmäßig gesetzte Recht gehalten hatten.12
Zieht man sich allerdings auf die Position zurück, dass das Recht nur dann gilt, wenn es auch gerecht ist, kann man diesem Problem zwar entgehen, handelt sich jedoch gleich mehrere andere Probleme ein: Denn woran ließe sich dann erkennen, dass die befolgte Norm nicht zu einem späteren Zeitpunkt als ungerecht gekennzeichnet und das eigene Handeln rückwirkend als unrechtmäßig verurteilt werden könnte? Rechtssicherheit, die in Rechtsstaaten aus den erläuterten Gründen ein hohes Gut darstellt, ist damit immer gefährdet. Außerdem müsste festgelegt sein, wer wann wie bestimmt, was als gerecht zu gelten hat. In einer langen Rechtstradition des so genannten Naturrechts wurden dafür bspw. biologische oder kosmische Erkenntnisse oder auch die Vernunftnatur des Menschen herangezogen.13 Auch hier ist aber zu kritisieren, dass nicht hinreichend zu klären ist, „wer oder welche Instanz die naturrechtlichen Normen erkennt und interpretiert“14 und was letztlich unter einer als solcher bezeichneten ‚Natur‘ zu verstehen ist.15
Vertritt man eine positivistische Auffassung, gilt Recht, wenn es ordentlich gesetzt wurde. Das ist auch dann der Fall, wenn es gegen Prinzipien der Gerechtigkeit verstößt.16 In diesem Fall wird das Recht als getrennt von Prinzipien der Gerechtigkeit betrachtet. Im Sinne der Rechtssicherheit ist es wichtig, dass dies so ist. Doch wie ist damit umzugehen, wenn Recht ungerecht wird oder ist?
Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die so genannte Radbruch’sche Formel: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“17 Damit formuliert Radbruch die Grundlage dafür, gesetztes Recht als unrichtig zu kennzeichnen, ohne dabei den Vorrang der Rechtssicherheit zu bestreiten.18 Neben diesem so genannten Unrechtsargument ist es außerdem möglich, dies auf ein ganzes Normensystem wie in totalitären Institutionen oder Staaten auszuweiten.19 Wann allerdings ein „unerträgliches Maß“ erreicht ist, verweist zum einen auf die Gewissensentscheidung der Einzelnen (z. B. ziviler Ungehorsam), ist aber v. a. gesellschaftlich auszuhandeln. Daher sind die Verfahren dieser Aushandlungsprozesse und die Beteiligungsmöglichkeiten so wichtig: Sie sind die Bedingung für ein „gerechteres“ Ergebnis.20
Auf dem Weg zu einem gerechteren Recht braucht es gesellschaftliche Beteiligung
Recht zielt also auf die Gerechtigkeit, kann sie aber „nie vollständig verwirklichen“21. Insofern kann die zu Beginn angeführte Umfrage zweierlei noch einmal ins Gedächtnis rufen und verstärken: Erstens, dass darüber, ob das Recht gerecht ist, immer weiter gerungen werden muss, und zweitens, dass das Ungerechtigkeitsempfinden nicht nur ein Indikator für mögliche Ungerechtigkeiten sein muss, sondern auch dazu führen kann, sich für ein gerechtes Rechtssystem zu engagieren. Denn die Menschen, die das Recht betrifft, sind in einem demokratischen Rechtsstaat auch diejenigen, die auf verschiedenen Wegen mitentscheiden, wie es lautet. Es gilt nicht nur für sie, sondern auch durch sie. Weite Teile des geltenden Rechts werden als Gesetze in Parlamenten eingebracht, diskutiert und verabschiedet, sodass es nicht aus einem ‚luftleeren‘ Raum stammt. Die dahinterliegenden Themen werden vielmehr im Idealfall durch einen breiten gesellschaftlichen Diskurs aufgebracht, anhand wichtiger Argumente Regelungsoptionen abgewogen und abschließend als Gesetze mehrheitlich verabschiedet.22 Mit diesen Verfahren kann sichergestellt werden, dass eben jenes Gespür für gerechte und ungerechte rechtliche Normen Eingang in die Gesetzgebung erhält.
Fußnoten
01 Damit ist die Möglichkeit gemeint, dass das Urteil und das Strafmaß sich je nach Gericht unterscheiden können. Die Umfrage wurde für den „Roland Rechtsreport 2021“ durchgeführt. Vgl. G. Schattauer, „Brisante Umfrage zur Justiz: Mehrheit der Bürger für härtere Urteile gegen Straftäter“, 7.02.2021, https://www.focus.de/politik/schlechtes-zeugnis-fuer-deutsche-richter-nase-voll-von-kuschel-justiz-mehrheit-der-buerger-fuer-haertere-urteile-gegen-straftaeter_id_12992712.html [Aufruf: 27.03.2024].
02 Diese betreffen vor allem die rechtliche Ebene und Rechtsschulen.
03 F. Reimer, Art. Recht, in: Staatslexikon8 online, https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Recht [Aufruf: 21.03.2024].
04 Vgl. u. a. K.-L. Kunz /M. Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft (UTB 2788), Bern – Stuttgart – Wien 2006, 35. Hierbei wird der Staat durch eine Person repräsentiert, die als Richter:in Recht spricht.
05 Vgl. N. Hoerster, Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München 2006, 12.
06 Vgl. M. Becka, Strafe und Resozialisierung. Hinführung zu einer Ethik des Justizvollzugs, Münster 2016, 54.
07 Zu differenzierten Studien über den Begriff der Geltung vgl. W. Vossenkuhl, Art. Geltung, in: Staatslexikon8 online, https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Geltung [Aufruf: 26.03.2024]. Gemeint sind hier rechtliche Normen, die auch einen Bezug zu moralischen Fragen aufweisen; dem gegenüber stehen solche ohne diese moralische Ebene wie bspw. die Entscheidung, auf welcher Straßenseite gefahren wird. Ebenfalls zum Geltungsbegriff vgl. R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/Br. 52005, 137-153.
08 Diese drei Ebenen sind der Gliederung von Alexy entnommen, ebd., 29.
09 Die Frage, wie die Gegenposition zu benennen ist, wird unterschiedlich beantwortet. Alexy kontrastiert einen positivistischen und einen vernunft- bzw. naturrechtlichen Rechtsbegriff, vgl. ebd.
10 Zur problematischen Gegenüberstellung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit vgl. einführend K. Seelmann/D. Demko, Rechtsphilosophie, München 62014, 152–155.
11 Vgl. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, 35–39.
12 Die von der Völkerrechtskommission 1950 als verbindlich formulierten ‚Nürnberger Prinzipien‘ legen u. a. in Principle II fest, dass der Täter auch dann nach dem Völkerrecht verantwortlich ist, wenn das nationale Recht für ein völkerrechtliches Verbrechen keine Strafe vorsieht. Vgl. hierzu International Law Commission, Principles of International Law recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal, with commentaries, in: Yearbook of the International Law Commission, 1950, vol. II, 374–378, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/7_1_1950.pdf [Aufruf: 27.03.2024].
13 Vgl. Becka, Strafe und Resozialisierung, 39.
14 Ebd.
15 Vgl. ebd., 39–40.
16 Vgl. ebd., 42.
17 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1 Nr. 5, August 1946, 105–108, hier 107.
18 Vgl. Becka, Strafe und Resozialisierung, 44.
19 Vgl. ebd. An dieser Stelle sei auf die Ausführungen von Becka zum Prinzipienargument hingewiesen, die insbesondere über die Frage nach Rechtsauslegung und den so genannten ‚offenen Text‘ im Recht reflektiert. Dies kann in diesem einführenden Text nicht geleistet werden.
20 Dabei bleibt jedoch die inhaltliche Bestimmung dessen, was als Gerechtigkeitsmaßstab dem Recht vorgeordnet ist, höchst umstritten; vgl. dazu den vielbeachteten Beitrag von O. Boehm, Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Berlin 2023.
21 Becka, Strafe und Resozialisierung, 55.
22 Von den gesetzesrechtlichen Rechtsnormen sind die gewohnheitsrechtlichen Normen zu unterschieden, vgl. hierzu Hoerster, Was ist Recht?, 24.
Die Autorin
Katharina Leniger, Mag. theol. (katharina.leniger@uni-wuerzburg.de), geb. 1991 in Nürnberg, Wiss. Mitarbeiterin an der Professur für Christliche Sozialethik an der Universität Würzburg, Anschrift: Bibrastraße 14, 97070 Würzburg. Veröffentlichung u. a.: (zus. mit M. Becka) Spiralen der Verletzung. Im Knast jenseits von Tätern und Opfern, in: H. Keul (Hrsg.), Theologische Vulnerabilitätsforschung – gesellschaftsrelevant und interdisziplinär, Stuttgart 2020, 159–176.