Stichwort

(Un-)Freiheit in der modernen persischen Literatur

Ein Fenster zur Freiheit betitelt der Autor, Verleger und Übersetzer Mohammad Hoseyn Allafi seine Anthologie moderner persischer Prosaliteratur im 20. Jahrhundert.1 Dieser Titel dient als thematische Klammer um ganz unterschiedliche Werke aus 100 Jahren Literaturgeschichte und ist eine pointierte Beschreibung eines literarischen Leitgedankens: Literatur überwindet Grenzen. Das Fenster markiert die Schwelle zwischen innen und außen, es bringt Licht in einen ummauerten, dunklen Raum, es durchbricht das Versteinerte und öffnet sich in Helligkeit und Weite. Auch wenn die individuelle, gesellschaftliche und politische Freiheit Ziel und Fluchtpunkt des literarischen Blickes ist, so überwiegen in der modernen persischen Literatur doch Unfreiheit und Unterdrückung gegenüber optimistischeren Entwürfen. Das eingeschränkte Recht auf freien Ausdruck prägt zudem das Leben der meisten Kunstschaffenden in Iran. Trotzdem hat sich eine vielfältige literarische Szene entfaltet, die individuelles Erleben, gesellschaftliche Verhältnisse und politische Rahmenbedingungen reflektiert und verhandelt.

Die 1960er und 1970er Jahre

In Iran der ’60er und ’70er Jahre dominierten sozial- und regierungskritische Werke die literarische Szene. Themen wie soziale Ungleichheit, der rasche gesellschaftliche und kulturelle Wandel, Stadt-Land-Gefälle, Rückständigkeit, Despotie und politische Unterdrückung beherrschten vor allem das Genre der Kurzgeschichte, das in dieser Zeit die Führungsrolle unter den literarischen Ausdrucksweisen übernahm. Werkzeug der politischen Unterdrückung war der ab den ’50er Jahren aufgebaute Informations- und Sicherheitsapparat SAVAK, der sich zu einem dichten Netzwerk von Spitzeln auswuchs und vornehmlich linke oppositionelle Kreise aufs Korn nahm. SAVAK wurde zum Synonym für die Durchdringung der Gesellschaft mit willfährigen oder auch hilflosen Informanten und die Unterdrückung jeder kritischen Äußerung. Der in Teheran lebende Autor Hassan Cheheltan schildert in einem Kapitel seines Romans Der Zirkel der Literaturliebhaber (2020), wie ein SAVAK-Spitzel in einem privaten Lesekreis kurz nach der Revolution enttarnt wird. Die Szene lässt die Bedrohung nachempfinden, die aus der Aushöhlung des privaten Vertrauensraums erwächst.

Im Vorfeld der Revolution, als die Repressionen gegen Ende der Herrschaft von Mohammad Reza Pahlavi (1941–1979) etwas gelockert wurden, kam es zu einem großen literarischen Ereignis: Im Oktober 1977 veranstaltete das deutsche Goethe-Institut in Teheran zusammen mit dem Iranischen Autorenverband eine zehn Abende dauernde Serie von Dichterlesungen. Über fünfzig prominente Literaten lasen aus ihren Werken und sprachen unter freiem Himmel vor einem in die Tausende gehenden Publikum. Die „Zehn Nächte“ haben einen festen Platz in der Geschichte des politischen Umbruchs.2

In dieser Zeit wurde auch Samad Behrangis (1939–1967) Geschichte Der kleine schwarze Fisch (veröffentlicht 1968) zu einem ikonischen Werk des Aufbegehrens gegen die despotische Herrschaft.3 Die Erzählung von dem kleinen Fisch, der sich aus der Enge der heimischen Welt befreit, um die Bäche und Flüsse bis zu den großen Gewässern zu erkunden, ist im Stil einer Kindergeschichte verfasst, lässt sich aber auch als eine Allegorie des Befreiungskampfes lesen. Motive wie der Mut des Einzelnen und die Macht der Solidarität angesichts aller Bedrohungen, der Einsatz von Gewalt zur Selbstverteidigung und das Opfer des eigenen Lebens im Kampf gegen den mächtigen Feind beförderten die politische Lesart.4

Zensur und Selbstzensur

Nach einer kurzen Phase in den turbulenten Jahren 1978/1979, in der Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in ungeahnter Vielfalt erschienen, schloss sich das Tor der Freiheit wieder. Die Zensur, institutionell verankert am Ministerium für Kultur und Islamische Rechtleitung (Pers. Ershād), wurde erneut zum Türsteher zwischen Schaffensprozess und Öffentlichkeit. Zensiert werden nicht nur regimekritische Aussagen, sondern alles, was der islamischen Gesellschaftsordnung nach Maßgabe der iranischen Führung widerspricht. In der zeitgenössischen Literatur werden Unfreiheit und Freiheitsdrang weiterhin in antithetische Bilder von Dunkelheit und Helligkeit, Mauern und Fenster, Enge und Weite, Stillstand und Bewegung, Kälte und Wärme übersetzt. Darüber hinaus begegnen wir heute einem kreativen, variationsreichen Umgang mit dem Thema, in dem Textstrukturen, Bildersprache, verschiedene Aspekte literarischer Wirklichkeit, Widersprüche, Andeutungen und Unausgesprochenes zusammenwirken. Auch die neuen Kommunikationsmittel sind genutzt worden, um die Räume des freien Ausdrucks auszudehnen, zum Beispiel mit Gedichten und sogenannten Tiny Tales in den sozialen Medien. Inzwischen hat die Regierung jedoch technisch aufgerüstet und ihre Überwachung des Internets verschärft.

Gesetze und Regelungen zur (Un-)Freiheit des Wortes arbeiten mit unscharfen Formulierungen wie „moralische Korruption“ oder „Feindschaft gegen die Islamische Republik“.5 Die Unsicherheit über die Grenzen des Sagbaren führt dazu, dass die spätere Kontrolle schon in den Schaffensprozess integriert wird, und damit zu einer perfiden Form des geistigen Freiheitsverlusts, der Selbstzensur. Ein Beispiel für die Arbeit eines iranischen Autors in der Gegenwart ist Shahriar Mandanipurs (geb. 1957) Roman Eine iranische Liebesgeschichte zensieren.6 In einem raffinierten Vexierspiel auf mehreren Ebenen entwickelt der Autor eine Liebesgeschichte und reflektiert gleichzeitig – als persona im Roman – die inneren und äußeren Bedingungen, unter denen er arbeitet. Das erste Kapitel mit dem Titel „Nieder mit der Diktatur! Nieder mit der Freiheit!“ beginnt mit der einer atmosphärischen Beschreibung: „Teherans Luft ist erfüllt vom Duft der Frühlingsblüten und Abgase, von giftigen Düften aus Tausendundeiner Nacht, sie umschlingen, vereinigen sich, sie flüstern sich Geheimnisse zu.“7 Die Schere im Kopf des Autor-Protagonisten schlägt sich in der Liebesgeschichte typographisch nieder: Wo immer er die Möglichkeit behördlicher Intervention ahnt, erscheint eine selbstzensorische Streichung. Das gilt nicht nur für das Vokabular von Liebesbeziehungen, auch Hinweise auf verbotene Literatur („Mir ist nämlich bekannt, dass die Uni nie und nimmer eine Seminararbeit über Die blinde Eule vergibt“) oder politische Unruhen („Nach wie vor werden die Studenten niedergeknüppelt“)8 unterliegen dem internalisierten Verbot. Der Roman zeigt aber auch einen Weg auf, Verbote zu umgehen, und der führt wiederum über und durch die Literatur: das Paar kommuniziert mittels eines Codesystems von markierten Buchstaben in Werken der Weltliteratur.

Frau – Leben – Freiheit

Autorinnen und Dichterinnen haben die essenziellen Begrenzungen als Sinnbild weiblicher Lebenswirklichkeit schon vor der Revolution vermessen. Die Dichterin Forough Farrokhzad (1935–1967) schildert emotionales und physisches weibliches Erleben in einer klaren poetischen Sprache und verstieß damit zu ihren Lebzeiten eher gegen gesellschaftliche Konventionen als gegen Gesetze. Ihre ersten beiden Gedichtbände trugen die vielsagenden Titel Gefangen (1955) und Die Mauer (1956), bevor die Bände Rebellion (1958) und Wiedergeburt (1964) auf einen Befreiungsprozess verweisen.

Die Unruhen Ende 2022 haben mit dem Slogan „Frau – Leben – Freiheit“ die Situation der Frauen in der Islamischen Republik Iran in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Das Abnehmen des Kopftuchs in der Öffentlichkeit war eine Geste des Aufbegehrens gegen die obligatorische Kleiderordnung als Symbol für die im politischen System eingeschriebene und sanktionierte Einschränkung weiblicher Selbstbestimmung. Trotz der gesellschaftspolitischen und juristischen Benachteiligung sind Frauen heute auf dem Buchmarkt weitaus präsenter als vor der Revolution. Die Themen von Selbstbestimmung und Befreiung sind geblieben, zum Beispiel in den Romanen von Shahrnush Parsipur (geb. 1946), die sich einer radikal weiblichen Perspektive verschrieben hat.9 Literarische Frauenfiguren agieren oft im Privaten, zu Hause, in familiären Beziehungen, die weiblich besetzt, aber von Männern dominiert werden. Ihr Bewegungsradius ist gering, ihre Handlungsoptionen sind begrenzt. Aus unglücklichen, auch gewalttätigen, Beziehungen auszubrechen, die gesellschaftlichen Schranken zu überwinden, die erstickende Atmosphäre hinter sich zu lassen – all das gelingt kaum. Manchmal eröffnen nur Träume einen individuellen Freiraum, zum Beispiel bei Fariba Vafi (geb. 1963) in Der Traum von Tibet.10

Exil

Zensur und Selbstzensur hemmen die Kunstschaffenden, wobei es auch Stimmen gibt, die zum Beispiel das hohe Niveau des iranischen Films mit dem Zwang, sich mit diesen Begrenzungen auseinanderzusetzen, in Verbindung bringen.11 Letztlich wird jedoch die Verweigerung der Freiheit in einem totalitären Regime mittels Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzt. Seit der Gründung der Islamischen Republik vor 45 Jahren gab es Phasen relativer Offenheit, die aber regelmäßig von Gewalt gegen kritische Intellektuelle konterkariert wurden. Die Literaturschaffenden haben für die Freiheit in ihrem Land gekämpft, mit literarischen Texten, in Auseinandersetzungen mit den Behörden, mitunter auch auf offener Bühne: 1994 unterzeichneten 134 Schriftsteller*innen einen offenen Brief, in dem sie forderten, „… die Hindernisse für die Freiheit der Gedanken, Meinungsäußerung und Veröffentlichung zu beseitigen …“.12 Viele haben ihre Haltung mit dem Verlust der Freiheit und körperlich-seelischen Unversehrtheit, manche sogar mit dem Leben bezahlen müssen. Zahlreiche Literaturschaffende haben das Land verlassen. Vögel und der Vogelflug sind oft verwendete poetische Bilder der befreienden und befreiten Bewegung. In Geschichten von Goli Taraghi (geb. 1939) wird die Flugreise zu einem suspendierten Dasein.13 Für Autor*innen und Dichter*innen bedeutet die Grenzüberschreitung ins Exil eine Befreiung von den Zumutungen und Bedrohungen im Heimatland. Doch sie führt in ein Leben, das mit dem Verlust des sprachlichen und kulturellen Resonanzraums neue Hemmnisse bereithält.

„Öffne ein Fenster der Freiheit zu meinem Gefängnis / Schenk einen Krug voller Freude aus, denn ich bin zu Gast“: So lauten die ersten beiden Verse eines Gedichts von Simin Behbahani (1927–2014). Auch dieser Gedichtband (1995) trägt den eingangs erwähnten Titel: Ein Fenster zur Freiheit.

Fußnoten

01 M. H. Allafi, Ein Fenster zur Freiheit: 100 Jahre moderne iranische Literatur – drei Autorengenerationen, Frankfurt/M. 2000.

02 O. Gölz, Drifting toward Revolution: Kurt Scharf and the dah shab in Tehran, in: Iranian Studies 56 (2023), 181–190.

03 S. Behrangi, Der kleine schwarze Fisch: Märchen und Fabeln, Kiel 1987.

04 M. C. Hillmann, Behrangī, amad (1989), in: Encyclopaedia Iranica, online edition, https://iranicaonline.org/articles/behrangi-samad-teacher (Aufruf: 26.02.2024); K. Talattof, The Politics of Writing in Iran, Syracuse, NY 2000, 74–77. (Aufruf: 26.02.2024); K. Talattof, The Politics of Writing in Iran, Syracuse, NY 2000, 74–77.

05 A. Abiz, Censorship of Literature in Post-Revolutionary Iran, London 2021, 27–29.

06 Engl. Erstausg.: Sh. Mandanipur, Censoring an Iranian Love Story, Übers. aus dem Pers. S. Khalili, London 2009; dt. Ausg.: ders., Eine iranische Liebesgeschichte zensieren, Übers. aus dem Engl. U. Ballin, Zürich 2010.

07 Mandanipur, Eine iranische Liebesgeschichte zensieren, a.a.O., 7.

08 Ebd., 21 u. 50. Die blinde Eule, verfasst 1936/1937 von S. Hedayat (1903–1951) ist ein Schlüsselwerk der modernen persischen Literatur und heute in Iran verboten: S. Hedayat, Die blinde Eule, Übers. aus dem Pers. B. Nirumand, Frankfurt/M. 1990.

09 Auf Dt. sind von Sh. Parsipur erschienen: Tuba, Übers. aus dem Pers. N. Mina, Zürich 1991 (Original Teheran 1989) und Frauen ohne Männer, Übers. aus dem Pers. J. Himmelreich, Berlin 2012 (Original Teheran 1990, heute in Iran verboten).

10 F. Vafi, Der Traum von Tibet. Übers. aus dem Pers. J. Himmelreich, Bremen 2018.

11 Vgl. das Interview mit Panah, dem Sohn des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, im Guardian v. 21.07.2022: https://tinyurl.com/2p82af3u (Aufruf: 01.03.2024). (Aufruf: 01.03.2024).

12 Originaltext: https://tinyurl.com/39dnnbw9 (Aufruf: 03.03.2024). (Aufruf: 03.03.2024).

13 G. Taraghi, Ein Haus im Himmel, Übers. aus dem Pers. F. Hashemi, Teheran 2021.

Die Autorin

Dr. phil. Roxane Haag-Higuchi, apl. Prof. und Akademische Direktorin i. R., Lehrstuhl für Iranistik, Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Veröffentlichung u. a.: (mit Ch. Nölle-Karimi/Th. Loy [Hrsg.]), Literary Modernity in the Persophone Realm. A Reader (Veröffentlichungen zur Iranistik), Wien 2024 (im Druck).