Stichwort

Illiberale Konterrevolution und die katholische Kirche in Polen

Die Geschichte des Verhältnisses zwischen dem katholischen Christentum und der Demokratie in Polen in den letzten Jahren ist eine Geschichte der fortschreitenden Katastrophe. In einer Zeit der politischen Radikalisierung, die sich seit 2015 vollzieht – dem Jahr des Sieges der rechtspopulistischen Koalition –, ist es äußerst schwierig, zwei gleichermaßen widersprüchliche Begriffe zu finden. Der politische Prozess der Konterrevolution soll eine Antwort auf die „liberale Revolution“ sein, die auf den Zusammenbruch des Kommunismus folgte. Welche Folgen hat diese Radikalisierung für die polnische religiöse Welt?

Eine der Konsequenzen ist die Massenflucht der jüngeren Generation aus der Kirche. Seit Jahren beobachten wir einen sprunghaften, dramatischen – weil in Polen noch nie dagewesenen – Rückgang der Zahl der Schüler*innen, die den Religionsunterricht besuchen, und damit einhergehend einen immer stärkeren Rückgang der Teilnahme an religiösen Praktiken. Für die kirchlichen Einrichtungen bedeutet dies einen ebenso dramatischen Rückgang der Priesterberufungen und die allmähliche Notwendigkeit, die Priesterseminare aufzulösen, die auf der Welle der Begeisterung während des Pontifikats von Johannes Paul II. gegründet wurden. Die Säkularisierungswelle, der sich die polnische Gesellschaft lange entzogen hat, trifft mit großer Verspätung, aber auch mit unglaublicher und überraschender Dynamik ein. Sie führt zu einer Metamorphose der gesamten Gesellschaft und stellt die Bedeutung der katholischen Kircheninstitutionen im sozialen und politischen Leben radikal in Frage.

Demokratie unter kirchlicher Aufsicht

Die katholische Kirche hat seit 1989 einen einzigartigen Wandel durchlaufen, dessen Darstellung zum besseren Verständnis der politischen Prozesse beiträgt, die 2015 in Gang gesetzt wurden. Wichtige Kirchenhierarchen unterstützten das Abkommen am Runden Tisch in der letzten Phase des friedlichen Kampfes der Gewerkschaft Solidarność, und gaben ihm mit ihrer Autorität Nachdruck. In den 1990er Jahren wiederum wurde die Kirche zu einem Akteur, der den politischen Wandel in Form einer neoliberalen „Schocktherapie“ unterstützte und dessen dramatische soziale Folgen abmilderte, sowie die europäische Integration vorantrieb. Die sogenannte „liberale Demokratie“ in Polen nahm eine ganz besondere Form an, da die moralische Autorität in ihr explizit die religiöse Autorität der katholischen Kirche wurde. Diese Verflechtung von „Thron und Altar“ ist seit Beginn der neuen dritten Republik ein unverzichtbarer Bestandteil der polnischen politischen Kultur, unabhängig davon, welche Parteien in den letzten drei Jahrzehnten an der Macht waren. Jeder von ihnen war bestrebt, gute Beziehungen zu den kirchlichen Behörden aufrechtzuerhalten, was eine Garantie für politische Unterstützung und – in der Minimalvariante – für politische Ruhe von Seiten der Kirche war.

Es lohnt sich an einige Fakten zu erinnern, die für den Aufbau der neuen säkularen polnischen Staatlichkeit von Bedeutung sind und die auf einen ungeschriebenen Kompromiss zwischen den säkularen und kirchlichen Behörden in Polen hinweisen: die Einführung der Religion in die Schulen, die Unterzeichnung des Konkordats, die Aufnahme der invocatio dei in die Verfassungspräambel, die Einführung religiöser Symbole im öffentlichen Raum (u. a. Schulen und Parlament), die Einführung der Finanzierung von Katecheten aus dem Staatshaushalt. Das Hauptproblem war jedoch der Konflikt um die Abtreibung und die Einführung des Abtreibungsverbots durch die politische Elite, die in den 1990er Jahren viel unternahm, um eine öffentliche Debatte und ein öffentliches Referendum zu vermeiden – und dies trotz wichtiger sozialer Initiativen. Die eingeschränkte Abtreibungsmöglichkeit (die einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer schweren und irreversiblen Schädigung des Fötus erlaubt) wurde 2020 vom Verfassungsgericht abgeschafft. Die meisten seiner Mitglieder wurden in den letzten Jahren unter Verstoß gegen funktionierende rechtliche Verfahren gewählt. Das Abtreibungsverbot hat die größten Straßenproteste in Polen seit der Solidarność-Bewegung ausgelöst. Es war auch das erste Mal, dass antireligiöse und antikirchliche Parolen so offen und massiv im öffentlichen Raum auftraten.

Kirche: Werteaufseherin mit schwacher Legitimation

So haben wir es seit dem Fall des Kommunismus bis heute mit politischen Prozessen zu tun, die – aufgrund des Einflusses der katholischen Kirche – die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen ignoriert haben, die für spätmoderne Gesellschaften (einschließlich der polnischen) charakteristisch sind. Unter Missachtung der Präferenzen und des Willens der polnischen Bischöfe hat der Prozess der Rationalisierung die Kraft der religiösen Legitimation der Macht geschwächt. Die Individualisierung wiederum hat das Arbeits- und das Familienleben, die Lebensstile, die politischen und religiösen Vorstellungen tief geprägt, wobei sich zeigt, dass diese zunehmend von den individuellen Präferenzen des Einzelnen abhängen und weniger von religiösen Vorstellungen über traditionelle Formen des gesellschaftlichen Lebens.

Die Kirche, die in den 1980er Jahren gemeinsam mit der sozialen Massenbewegung Solidarność das Versprechen individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit formulierte, hat die postulierten Versprechen schnell verraten. Statt eine konstruktive Kritikerin in Zeiten der Demokratieaufbaus zu sein, die zu möglichen alternativen Lebensstilen anregt, wurde die Kirche zu einer Werteaufseherin. Die Skandale, die nach dem Tod von Johannes Paul II. mit voller Wucht öffentlich wurden, zeigen das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs und die Vertuschung offensichtlicher Gesetzesverstöße durch katholische Priester. Sie machen aber auch – was von vielen katholischen Historikern in den letzten Jahrzehnten nach der Wende konsequent verschwiegen wurde – die Zusammenarbeit vieler Priester mit den autoritären Sicherheitsdiensten deutlich. Die Kirche zeigt somit das Gesicht einer Institution, die sich außerhalb der Reichweite des Gesetzes befand, obwohl sie im Herzen eines demokratischen Systems fungierte.

Religion einer kranken Phantasie oder polnischer homo catholicus

Es ist bemerkenswert, dass einer der prominentesten und einflussreichsten polnischen Denker in den 1980er und 1990er Jahren, der Philosoph und Priester Józef Tischner, sich von Beginn der politischen Transformation an auf die Beschreibung eines bestimmten religiösen Typus konzentrierte. In vielen seiner Aufsätze aus dieser Zeit skizzierte Tischner eine Figur, die ich hier als polnischen „homo catholicus“ bezeichnen möchte, und warnte, dass „das Christentum in Polen heute weder durch Säkularismus noch durch Atheismus (zumindest vorläufig) bedroht ist, sondern durch eine Parodie der Religion“. Es ging ihm um eine Religion, die Angst vor individueller Freiheit hat und von einer „kranken Phantasie“ bestimmt sei. Die von Tischner in Anschlag gebrachte Charakterisierung ist weit gefasst und bezieht sich auf die soziale und politische Welt, die die Kirche als Institution zur Legitimierung ihrer sozialen Vernunft und vor allem als eine Form der Macht über eine „gebrochene Wirklichkeit“ sieht. Tischner nennt vier Merkmale einer solchen Vorstellung. Sie besteht aus (1) einem konfliktauslösenden Partikularismus, (2) einer Gemeinschaft, die auf Gesten der Demaskierung und auf religiöser Ideologie aufbaut, (3) einer Gemeinschaft der moralischen Verurteilung der anderen (der Feind ist der säkulare, materialistische Westen), (4) einem Hass auf die Vernunft als Quelle des Relativismus, (5) dem Aufbau von Religiosität auf dem emotionalen Gemeinschaftsgefühl dank gemeinsamer Praktiken und Rituale, die sich zum Kampf gegen die Feinde aufwärmen.

In den Äußerungen der Kirchenhierarchie, deren Radikalismus sich mit dem politischen Radikalismus der rechtspopulistischen Regierung Polens vermischt, drückt sich die kranke Phantasie der populistischen Sprache in aller Deutlichkeit aus. Viele Aussagen der Hierarchie stellen extreme Sprachbeispiele dar, die in Polen in den Mainstream des gesellschaftlichen und politischen Lebens Eingang gefunden haben. Sie zeigen, wie sehr religiöse Antimodernität und Rechtspopulismus miteinander verschmelzen. Sie veranschaulichen auch recht gut die seit 2015 anzutreffende offene Unterstützung der Mehrheit der katholischen Hierarchie für die rechtspopulistische Mobilisierungswelle in der polnischen Gesellschaft. Die katholische Kirche fängt an, den Preis für diese Verzweckung der Religion zu zahlen. „Jesu, ich vertraue auf mich“, lautet ein Slogan, der sich während der Proteste gegen das Abtreibungsverbot im Jahr 2020 verbreitet hat und einen Bruch mit der religiösen Botschaft der Kirche zum Ausdruck bringt. Ein weiterer Aufruf im Rahmen der Abtreibungsdebatte – „Kümmert euch um den Leib Christi!“ – zeigt sehr deutlich, dass sich die polnische Gesellschaft in einer völlig neuen politischen Wirklichkeit befindet. Für viele, und es werden immer mehr, versteht es sich von selbst, dass in dieser neuen Realität kein Platz mehr für die Kirche ist.

Der Autor

Dr. phil. Jacek Kołtan (jkoltan@gmx.net), geb. 1977 in Wałcz (PL), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am European Solidarity Centre in Gdánsk. Anschrift: W. Jageiłły 3/24, 80–180 Gdańsk, PL. Veröffentlichung u. a.: B. Kerski/J. Kołtan (Hrsg.), Solidarity, Democracy, Europe, Gdańsk 2021.