Stichwort

Social distancing

Mehr als zwei Jahre leben wir mit dem Corona-Virus. Die meisten Menschen haben ihr Verhalten der pandemischen Situation angepasst und befolgen – mehr oder weniger strikt – die so genannten AHA-Regeln, die uns auffordern, Abstand zu halten, Hygiene-Maßnahmen zu beachten und Alltagsmaske zu tragen. Die Präventivtechnologie des persönlichen cordon sanitaire – mindestens 1,5 Meter sollen es sein – ist die angesagte, weil Schutz versprechende Immunisierungsstrategie.

Dass die gut gemeinten Distanzierungsmaßnahmen jedoch für Kinder und Jugendliche wie auch für alte und gebrechliche Menschen (nicht zuletzt in Pflegeeinrichtungen) schwerwiegende Folgen – Lerndefizite, Depressionen oder Vereinsamung – zeitigen, wurde erst nach und nach in aller Deutlichkeit erkannt.

„Voneinander wegstehen“

Schaut man auf den lateinischen Begriff „distare“, von dem sich das deutsche Wort „Distanz“ ableitet, dann fällt sein komplexes Bedeutungsfeld auf.1 Direkt übersetzt meint distare so viel wie „voneinander wegstehen“. Ausgedrückt wird damit ein Verhältnis des räumlichen Getrenntseins („von jemandem bzw. von etwas abrücken“). Der Fokus kann jedoch ebenso auf der Differenz und Unterschiedenheit liegen. Und reflexiv verwendet zeigt das Verb „distanzieren“ schließlich an, dass man mit einer Sache, Position oder Person nichts zu tun haben will („sich abgrenzen“). Im Bereich des Sports kommt der Begriff zudem in der Bedeutung von „überbieten“ im Sinne von „einen Konkurrenten deutlich hinter sich lassen“ vor. Insgesamt ist zu unterscheiden zwischen sozialen, physischen und emotionalen Distanzierungen, die nicht notwendigerweise kombiniert vorkommen müssen.

Als positive Begleiterscheinung des pandemiebedingten Abstandnehmens ist ein massiver Digitalisierungsschub zu verzeichnen: „Großeltern skypten mit Enkelkindern, Tagungen und Konferenzen wurden in Videoformate umgewandelt. Gottesdienste wurden gestreamt, […] nach und nach aber auch weitere Formate der Pastoral in digitales Angebot umgewandelt: Kommunionunterricht. Bibelgespräch.“2

Begegnung im Digitalformat und im Präsenzmodus

Digital natives tun sich dabei naturgemäß leichter als digital immigrants.3 Im Gesundheits- und Pflegesektor beispielsweise konnten in der Pandemie mit Onlineberatungsangeboten, medizinischem Telemonitoring und distance caregiving digitale Coping-Strategien ausgebaut und verbessert werden. Wo einst vis-à-vis miteinander verhandelt wurde, da treffen sich Geschäftsleute heute – oftmals über weite Entfernungen hinweg, ohne lästige Anreisen, Hotelübernachtungen und Spesenabrechnungen, und noch dazu umweltverträglich – unter Zuhilfenahme höchst praktischer Online-Tools. Die vielfältigen Digitalformate bringen Menschen in beruflichen wie privaten, in schulischen und zivilgesellschaftlichen Bereichen anders als früher zusammen – und halten sie zugleich auf Distanz zueinander.

Wenn allerdings im Homeoffice ein Video-Call den nächsten jagt und der Rücken nach stundenlangen Online-Sitzungen schmerzt, dann sehnen sich viele derjenigen, die durch die Corona-Pandemie eher unfreiwillig zu Digitalexpert*innen geworden sind, zunehmend nach Begegnungen im althergebrachten Präsenz-, Nähe- und Berührungsmodus (zurück), die – so zeigen es entsprechende Studien – das kreative und emotionale Potential der Beteiligten signifikant zu fördern in der Lage sind.4

Anlässlich des 50. Welttags der sozialen Kommunikationsmittel versuchte Papst Franziskus den relativen Wert der digitalen Kommunikationstechnologien wie folgt zu fassen: „Nicht die Technologie bestimmt, ob die Kommunikation authentisch ist oder nicht, sondern das Herz des Menschen und seine Fähigkeit, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel gut zu nutzen. Die sozialen Netze sind imstande, Beziehungen zu begünstigen und das Wohl der Gesellschaft zu fördern, aber sie können auch zu einer weiteren Polarisierung und Spaltung unter Menschen und Gruppen führen. Der digitale Bereich ist ein Platz, ein Ort der Begegnung, wo man liebkosen oder verletzen, eine fruchtbare Diskussion führen oder Rufmord begehen kann.“5

Verunsicherungen in Folge von Missbrauchsprävention

Mit social distancing haben wir es allerdings nicht nur im Kontext von Covid-19 zu tun. Die in den letzten zwanzig Jahren mit aller Gewalt ans Tageslicht und ins Bewusstsein einer schockierten Öffentlichkeit getretenen massenhaften Vorkommnisse sexueller bzw. geistlicher Gewalt gegenüber Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen – nicht zuletzt in der katholischen Kirche – haben inzwischen vielerorts zu Konsequenzen geführt, die das Miteinander in Pfarrgemeinden und Sportvereinen, Schulen und Jugendclubs transparenter und damit für die Kinder und Jugendlichen sicherer machen sollen. Im Rahmen der Prävention sexualisierter Gewalt unterliegt das Verhalten von Erwachsenen, die mit Minderjährigen und Schutzbefohlenen arbeiten, heute verschärfter Kontrolle. In diesem Zusammenhang wurden beispielsweise bis dato nicht einsehbare Büros, Umkleideräume und Sprechzimmer so umgebaut, dass das Geschehen dort nun auch von außen beobachtbar ist.

Zur Folge haben diese und andere Präventionsmaßnahmen allerdings auch, dass manche erwachsenen Mitarbeiter*innen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Kirchengemeinden und Sportvereinen verunsichert sind, wie weit sie sich den ihnen anvertrauten Schutzbefohlenen noch nähern dürfen. Ist es möglich, im Zeltlager ein weinendes Kind, das massives Heimweh hat, in den Arm zu nehmen? Oder würde dies schon von anderen als unlautere Grenzüberschreitung gewertet werden? Die Beantwortung solcher Fragen und die Entwicklung einer entsprechenden Haltung ist nicht einfach – auch nicht in der Kirche.

Berührungen können anrühren

Unbestreitbar gestaltete Jesus von Nazareth seine Begegnungen mit den Menschen, die für ein gelingendes Leben der Heilung bedurften, mit Gesten und Praktiken körperlicher Nähe.6 Derjenige, in dem sich Göttliches und Menschliches auf kultur- und religionshistorisch einmalige Weise berührt haben, rührt Menschen durch körperliche Berührung auch in ihren Herzen an.7

Allerdings können die Berührungen und Umarmungen, mit denen Jesus seinen Gegenübern sehr unbefangen begegnete, heute nicht einfach übersetzt oder gar naiv imitiert werden. Das gilt umso mehr angesichts der missbräuchlichen Übergriffe, gingen doch alle Gewalttaten immer mit Praktiken körperlicher und/oder emotionaler Nähe einher.

Will man jedoch vor lauter Angst, so der Pastoralpsychologe Hermann Kügler SJ, „nur die optimale Distanz suchen und die optimale Nähe vermeiden, droht einiges verloren zu gehen, das wertvoll ist.“8 Deshalb ist zu beachten, dass sich Nähe und Distanz gegenseitig bedingen. „Einander nah kann nur sein, wer immer noch voneinander entfernt ist, in welcher kurzen Entfernung auch immer. Auch die räumliche Nähe ist also eine Situation, die sozialer Gestaltung bedarf.“9

„Communitas“ und „immunitas“

Das Austarieren von Nähe und Distanz und die damit einhergehenden Konsequenzen für den Gefühlshaushalt betreffen nicht nur einzelne Individuen und die Menschen ihrer Nahbeziehungen. Die Corona-Pandemie und der Umgang mit ihr verunsichert die Gesellschaft insgesamt – wie auch der globale, sexuell und geistlich konnotierte Machtmissbrauch von Klerikern nicht nur fromme Kirchgänger*innen wütend macht, sondern die Zivilgesellschaft zur Gänze empört. In diesem Sinne trägt die gesamte Gesellschaft Verantwortung für die nötigen Immunisierungsstrategien. Communitas (Gemeinschaft) und immunitas (Immunität, Freisein) markieren also so etwas wie die Brennpunkte der Ellipse namens social distancing. Beiden Aspekten hat der italienische Philosoph Roberto Esposito – lange vor der Pandemie bereits – je eine höchst aufschlussreiche Monographie gewidmet: „Communitas“ und „Immunitas“.10 Die zwei lateinischen Substantive communitas und immunitas, so führt Esposito dort aus, verdanken sich der selben Wurzel: munus. Im antiken römischen Recht hatte das Wort munus (pl.: munera) zwei Bedeutungen. Darauf weist die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey hin: Gemeint ist zum einen eine Pflicht im Sinne eines Amtes, einer Abgabe oder eines Geschenks. Eigenes muss geteilt werden. Oft waren es finanzielle munera – z. B. Steuern –, die man zu zahlen hatte. Zum anderen konnotiert die Begriffsfamilie des munus auch Bedeutungen des Schützens und Absicherns.11

Beide Wortfelder – das des Pflicht zum Geben/Teilen und das des Schützens – beziehen sich gerade nicht allein auf das einzelne Subjekt. Vielmehr ist die communitas als ganze im Sinne des lateinischen Präfix cum- (= mit) eine Mit-munus-Gemeinschaft, die sich – gerade in schweren Zeiten – durch Teilhabe aller und Schutz aller auszeichnen sollte. In diesem Sinne versucht eine Gesellschaft, die sich als „sorgende Gemeinschaft“12 versteht, vor allem die besonders vulnerablen Mitglieder ihrer communitas zu schützen. Die je nach gewähltem Focus politisch oder kirchlich begriffene communitas und die durch social distancing angezielte immunitas zeigen sich hier eng aufeinander bezogen.13

Fußnoten

01 Vgl. Art. „distanzieren“, in: Deutsches Wörterbuch von J. u. W. Grimm. Neubearbeitung (1965–2018), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (2DWB) = https://www.dwds.de/wb/dwb2/distanzieren; Art. „distanzieren“, in: Elektronisches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (eWDG). Version2 (2009) = https://www.dwds.de/wb/distanzieren; Art. „distanzieren“, in: W. Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und überarb. Version im eWDG = https://www.dwds.de/wb/distanzieren [Abruf aller Links: 01.05.2022].

02 A. Reinders, Körperliche Distanz und digitale Nähe, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück 73 (2021), 227–232, hier 227.

03 Vgl. M. Prensky Digital Natives, Digital Immigrants, in: On the Horizon 9 (2001), No. 5 = https://marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf [Abruf: 01.05.2022].

04 Vgl. bspw. Universität zu Köln – Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR), Homeoffice- und Präsenzkultur im öffentlichen Dienst in Zeiten der Covid-19-Pandemie, Köln 2020 = https://kups.ub.uni-koeln.de/11744/1/Homeofficekultur%20im%20oeffentlichen%20Dienst%20in%20Zeiten%20von%20Corona_Ergebnisbericht.pdf; M.J. Hertenstein u. a., Touch communicates distinct emotions, in: Emotion 6 (2006), No. 3, 528–533 = https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16938094/ [Abruf beider Links: 01.05.2022].

05 Papst Franziskus, Kommunikation und Barmherzigkeit – eine fruchtbare Begegnung. Botschaft zum 50. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, Vatikan (24.01.2016) = https://www.vatican.va/content/francesco/de/messages/communications/documents/papa-francesco_20160124_messaggio-comunicazioni-sociali.html [Abruf: 01.05.2022].

06 Zum Folgenden vgl. W. Kleine, Nähe und Distanz. Neutestamentliche Anmerkungen über eine nicht nur pastorale Herausforderung in Zeiten der Corona-Pandemie, Weblog „Dei Verbum“ (31.03.2020) = https://www.dei-verbum.de/naehe-und-distanz/ [Abruf: 01.05.2022].

07 Vgl. dazu B. Eisenhauer, Darf ich anfassen? Über Berührung und Anrührung in Zeiten der Pandemie, mit einer Beimischung Weihnachten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 26.12.2021 (Nr. 51), 16.

08 H. Kügler, Nähe und Distanz in der Seelsorge, in: Stimmen der Zeit 140 (2015), 577–578, hier 577.

09 A. Reinders, Körperliche Distanz und digitale Nähe, 230.

10 R. Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Aus dem Italienischen übersetzt von S. Schulz und F. Raimondi (Transpositionen Bd. 14), Berlin 2004; ders., Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Aus dem Italienischen übersetzt von S. Schulz (Transpositionen Bd. 11), Berlin 2004.

11 Vgl. I. Lorey, Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich 2011, bes. 9–12.

12 B. Uhlmann, Gemeinsam einsam, in: Süddeutsche Zeitung v. 30.04./01.05.2020 (Nr. 100), 14.

13 Zum Folgenden s. auch U. Engel, Immunität und Gemeinschaft in Corona-Zeiten. Eine Reflexion im Anschluss an Roberto Esposito und Isabell Lorey, in: Guardini akut Nr. 9, KW 21 (19.05.2020) = https://www.guardini.de/projekte/guardini-akut/guardini-akut-kw-21-ulrich-engel-op.html [Abruf: 01.05.2022].

Der Autor

Dr. theol. habil. Ulrich Engel OP (engel@institut-chenu.info), geb. 1961 in Düsseldorf, Gründungsbeauftragter und Prof. für Philosophisch-theologische Grenzfragen am Campus für Theologie und Spiritualität Berlin. Anschrift: Schwedter Straße 23, D-10119 Berlin. Veröffentlichung u. a.: [zus. mit Th. Eggensperger/F. Geyer] Ein kulturelles Laboratorium. Der Campus für Theologie und Spiritualität Berlin, in: Herder Korrespondenz 76,2 (2022), 43–45.