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Felix Körner, Politische Religion. Theologie der Weltgestaltung – Christentum und Islam, Verlag Herder Freiburg/Br. 2020, 336 S., € 30,–.

„Politische Religionen“ – unter dieses Schlagwort brachte der Sozialwissenschaftler Eric Voegelin 1938 die totalitären Diktaturen in Europa. In der Verabsolutierung, ja sogar „Divinisierung“ von Staat und Klasse oder Rasse erkannte er bedrohliche Analogien zu bestimmten Formen der Religion. Die Rede von der „politischen Religion“ kann demnach begriffsgeschichtlich durchaus als vorbelastet gelten. Das hier angezeigte Buch des Fundamentaltheologen und Jesuiten F. Körner (Berlin) betreibt eine fruchtbare Voegelin-Rezeption – und schafft es, dem Terminus, auch mit Rückgriff auf Johann Baptist Metz und Wolfhart Pannenberg, eine andere Sinnrichtung zu geben. Die Frage lautet nicht: Wie können politische Ideologien auf funktionaler oder inhaltlicher Ebene das gefährliche Potenzial des Religiösen nutzen? Sondern: Auf welche Weise tragen Religionen, vorläufig verstanden als „Realisierung des Heiligen“, zur Weltgestaltung bei, insbesondere Christentum und Islam? Diese Frage kommt griffig im Untertitel der englischen Originalausgabe zur Geltung: „How Christianity and Islam Shape the World“.

Der Verf. nimmt seine Leser:innen auf eine anregende und anspruchsvolle Reise der Durchsicht und Deutung mit. Hier entwirft ein katholischer Theologe, der „Islamisches (…) mit großem Interesse, aber doch von außen“ betrachtet, eine Ekklesiologie, „die auch von den Zeugnissen der Muslime lernen will“ (17). Ohne Unterschiede zu verwischen, bringt er biblische und koranische Reflexionen als Texte eines gemeinsamen Diskursraums miteinander ins Gespräch. Dies macht er derart wertschätzend und fachkundig, dass das Buch zugleich auch ein performatives Zeugnis des interreligiösen Dialogs darstellt. Dass er ein nicht selten vermintes Themenfeld mit gelehrter Gelassenheit, aber nicht ohne die Leidenschaft einer engagierten Theologie, durchschreitet, ist ein wohltuender Gegenentwurf zu weniger differenzierten Beiträgen zum Zusammenhang von Politik und Religion.

Der Großteil des Buches besteht aus sechs deskriptiv-kritischen Versuchen, die weltgestaltende Wirkung von Religion auf einen Begriff zu bringen, wobei jeweils zwei Ansätze einander als Gegensätze oder Ergänzungen zugeordnet sind. (1) Zunächst kann Religion ihre gesellschaftlich-politische Wirksamkeit entfalten, indem sie ganz selbstverständlich da ist: als „Kultur“ bzw. „Welt“, in die man hineingeboren wird und die auf vielschichtige Weise den Alltag der Menschen prägt. (2) Als Gegenstück lässt sich die bewusste Entscheidung für „ein neues Ich, eine neue Identität“ (77) ins Auge fassen: Wer eine Erfahrung der „Bekehrung“ und „Berufung“ erlebt hat, nimmt Religion nicht schlichtweg als Strukturierung des Vorhandenen wahr, sondern als eine Dynamik des Auszugs und Aufbruchs, wobei kulturlose Formen der religiösen Identität wiederum ihre Schattenseiten bergen. Als „spezifische Sozialform des christlichen Glaubens“ wird hier die Kirche eingeführt, verstanden als „Mittel Gottes zur Verwandlung der Welt“ (130). Auf islamischer Seite arbeitet der Verf. das Ideal einer „prophetischen Zivilisierung“ und „göttlichen Gesellschaftsordnung“ heraus. Dadurch wird die Frage aber umso drängender: Wie stehen die Religionen zu irdischen Herrschaftsverhältnissen? Sie eignen sich sowohl zur (3) Legitimation von Herrschaft und Gewalt als auch zur (4) Relativierung und Kritik jeder menschlichen Machtausübung. Dieser ambivalente Befund wird wiederum sowohl durch christliche als auch durch islamische Quellen und Entwicklungen gestützt. Man wird Körners Ausführungen wohl so deuten dürfen, dass die für die „islamische Staatstheorie“ prägenden „Traumata“ (185f.) bis heute nachwirken. Und auch die nach fast zwei Jahrtausenden der „Missverständnisse und Missbräuche“ (210) erfolgte Abkehr der Kirche von weltlichen Machtansprüchen wird man kaum als abgeschlossene Erfolgsgeschichte lesen können. Umso bedeutsamer sind die beiden anderen Arten religiöser Weltgestaltung, die der Verf. aufzeigt: (5) „Genau eine Kirche, die ihre Schwäche, ihre Armut bejaht“ (217) kann auf neue Weise gesellschaftsprägend wirken. So verstanden ist Religion „ein ‚Armutszeugnis‘, in einem durchaus guten Sinn“ (249). Doch kann man in der modernen, pluralen Gesellschaft nicht bei der bloßen Vergegenwärtigung von Schwäche stehen bleiben. (6) Sobald sich die Vertreter:innen einer Religion „von dem Irrglauben verabschieden, wirksam sei man nur bei vollständiger Zustimmung“, kann Religion ihre Gestaltungskraft „als Inspiration in einer vielstimmigen Gesellschaft“ (251) entfalten.

Es folgt ein siebter Ansatz, der „die bisher untersuchten Gegenwartsweisen“ von Religion zusammenfassen will (284) und sich zugleich als normative „Programmformel“ (290) versteht: (7) Religion als „die Anerkennung des anderen“. Darunter werden überaus vielgestaltige Anerkennungsverhältnisse subsummiert: etwa die barmherzige Anerkennung des Menschen durch Gott, die gläubige Anerkennung Gottes durch den Menschen, die Anerkennung von Überlieferung und Gemeinschaftsordnung, aber auch die Anerkennung der Verantwortung, die der Einzelne gegenüber der Schöpfung, dem Mitmenschen und der Gemeinschaft hat, bis hin zur Anerkennung der Notwendigkeit, auf Änderungen hinzuwirken. Damit ist das Anliegen verbunden, einen Religionsbegriff zu gewinnen, der Gewalt grundsätzlich ablehnt und zu dessen Wesen die Dialogbereitschaft gehört: „Wenn Religion Anerkennung des anderen ist, gesteht sie bescheiden ein, dass das Wahre das Anzuerkennende uns gegenüber ist und vernünftiges Glauben daher Offenheit für Erkenntnisentwicklungen bedeutet.“ (306)

Kritisch könnte eingewandt werden: Ist ein solches Verständnis von Religion nicht stark vereinfacht oder idealisiert? Erwidern ließe sich zum einen, dass es Körner auf überzeugende Weise gelingt, sehr unterschiedliche – und zugleich allesamt grundlegende – Intuitionen aus religiösen Texten und Traditionen unter einem gemeinsamen Begriff zu versammeln. Zum anderen darf man nicht vergessen, dass es sich letztlich um einen normativen Entwurf handelt, getragen von einer Zuversicht, die Christ:innen dem Anbruch des Reichs Gottes verdanken: Am Ende geht die Geschichte gut aus.

Alexander Kalbarczyk, Sankt Augustin