Stichwort

Abrahami(ti)sche Religionen

Es gilt als Binsenweisheit, dass sich Judentum, Christentum und Islam auf einen gemeinsamen Stammvater Abraham berufen und daher auch als ‚abrahami(ti)sche Religionen‘ bezeichnet werden können1, wobei jede von ihnen auf Grundlage normativer Schriften – Jüdische Bibel/Erstes Testament, Neues Testament und Koran – sowie der außerbiblischen/-koranischen Überlieferung zu anderen Deutungen der Figur Abra(ha)m bzw. Ibrahim gelangt.2 In der jüdischen Tradition gilt Abraham vor allem als Repräsentant einer torahkonformen Gottesbeziehung, die als durch das Zeichen der Beschneidung bestätigter „Bund“ vorgestellt wird (vgl. Gen 17,7.10). Dies macht Abraham zum spirituellen und genealogischen Vater des jüdischen Volkes. Hingegen betont die christliche Tradition seine Segenszusage für „alle Völker“, also auch für Nichtjuden, allerdings nur jene, die an das Evangelium glauben und in diesem Sinne Kinder Abrahams sind (vgl. Gal 3,6–9, in Rückgriff auf Gen 12,3; 18,18). Die muslimische Tradition wiederum sieht in Ibrahim den Prototypen des rechtgläubigen Monotheisten und ersten „Muslim“ (vgl. Sure 3,67; 6,161–163), der zu einem vernunftgeleiteten Gottesglauben gefunden hat.

Bereits diese Auswahl an Abrahamsbildern zeigt, dass jede Tradition den Stammvater auf die eine oder andere Weise für die eigenen Wahrheits- und Geltungsansprüche reklamiert.3 Für eine universalistische Deutung eignet sich Abraham nur mit Einschränkung. Jede Qualifizierung als abrahami(ti)sch setzt deshalb eine reflektierte Hermeneutik und eine sprachliche und sachliche Differenzierung voraus.

Umstrittene Begriffe und Konzepte

Schon oft wurde die Wendung ‚abrahami(ti)sche Religionen‘ dafür kritisiert, dass sie Religionen essenzialisiere und eine harmonisierende Einheitlichkeit zwischen ihnen suggeriere, die nicht den religionshistorischen Gegebenheiten entspricht.4 Mit 9/11 und dem wachsenden Bedürfnis nach einer ‚Zähmung‘ des Gewaltpotenzials von Religion haben interreligiöse Initiativen, die sich aus einer friedenstiftenden Absicht heraus einer „abrahamischen Ökumene“, „abrahamischen Spiritualität“ o. Ä. verschreiben, neuen Schub erhalten.5 Jedoch übersehen diese häufig die unterschiedlichen Ausgangssituationen und historischen Erfahrungen der drei Traditionen, was zu Irritationen in der Begegnung zwischen Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen führen kann.6

Der Ausdruck ‚abrahami(ti)sche Religionen‘ wird indes nicht nur aus religionswissenschaftlicher, sondern auch aus (jüdisch-)theologischer Sicht kritisch betrachtet, da er der traditionellen jüdischen Deutung der beiden späteren Religionen und somit auch dem Selbstverständnis des Judentums nicht gerecht wird. Rabbiner Alon Goshen-Gottstein, Gründungsdirektor des Elijah Interfaith Institute in Jerusalem, bemängelt, dass die Kategorie der ‚abrahami(ti)schen Religionen‘ fundamentale Unterschiede zwischen Judentum, Christentum und Islam, jenseits des ihnen gemeinsamen Ein-Gott-Glaubens, ausblende, um einer „interreligiösen Ideologie“ der Verständigung zu dienen.7 Sein Vorschlag, Abraham als Identifikationsfigur für den suchenden Menschen an sich, der sich auf den Weg macht und schließlich zum Glauben an den einen Gott, d. h. Gott schlechthin, findet, zu verstehen, ist eine Denkfigur, die dem Selbstverständnis der monotheistischen Religionen eher entsprechen und für eine plurale Gesellschaft anschlussfähig sein könnte.8 In diesem Sinne stünde die Figur Abraham dann für eine Metanoia, also eine innere Umkehr des Menschen, der eine neue Sicht auf die Welt gewinnt.

Die Unterschiede und Divergenzen zwischen den drei Traditionen stehen seit einigen Jahren im Fokus vergleichender historischer Studien. Ausgehend von ihrer „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein), die sich aus den jahrhundertelangen geografischen, sprachlichen und kulturellen Verflechtungen im Nahen Osten, im mediterranen Raum und in Europa ergibt, untersuchen Religionshistoriker:innen wie Guy Stroumsa, wie „ein gemeinsames Set an Fragen über Gott und seine Welt“ von Judentum, Christentum und Islam unterschiedlich beantwortet wurde.9 Dabei sprechen die Wissenschaftler:innen explizit von den „abrahamischen Religionen“, um auf die wechselseitige Bedingtheit und Verwobenheit zwischen den Glaubenstraditionen aufmerksam zu machen.10 Kritisch sei angemerkt, dass der Islam in solchen Studien bislang wenig berücksichtigt wurde.11 Teilweise mangelt es darüber hinaus an der notwendigen Differenzierung zwischen den Strömungen innerhalb einer Tradition, um der Essenzialismus-Gefahr vorzubeugen. Nicht zuletzt sollten auch andere als nur die großen monotheistischen Religionen prinzipiell Berücksichtigung finden.

Bilateraler oder trilateraler Dialog?

Die religionsgeschichtlichen Ähnlichkeiten zwischen Judentum, Christentum und Islam waren und sind immer wieder Anlass, den interreligiösen Trialog zu suchen. Möglicherweise bot hierfür das muslimische Konzept der „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitāb), zu denen, aus Sicht des Islams, Juden und Christen zählen, implizit den Hintergrund.12 Dabei ist zu beachten, dass ein trilateraler Dialog einerseits weder bilaterale Begegnungen ersetzen noch die herausragende theologische Bedeutung des jüdisch-christlichen Verhältnisses mindern darf, andererseits aber auch niemanden vom Dialog ausschließen soll. Angesichts des gegenwärtigen Trends in der interreligiösen Begegnung, besonders unter dem Pontifikat von Franziskus, pragmatische Dialoge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme theologischen Erörterungen vorzuziehen, böte eine trilaterale Kooperation zwischen Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen die Chance, ein noch wirksameres Zeichen für eine geteilte Verantwortung für diese Welt zu setzen, als dies bilaterale Initiativen wie die Erklärung von Abu Dhabi über die „Geschwisterlichkeit aller Menschen“, die 2019 vom Papst und dem Großimam der al-Azhar Universität, Ahmad al-Tayyib, unterzeichnet wurde, ohnehin tun.13 Wünschenswert wäre, neben Themen wie gesellschaftlicher Frieden und Gemeinwohl, den Kampf gegen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Rassismus – ohne diese in eins zu setzen – und deren Verquickung mit religiösen Traditionen in aller Deutlichkeit zu thematisieren. Derartige Menschenfeindlichkeit befeuert den Nahostkonflikt und belastet das Zusammenleben in multireligiös-säkularen Gesellschaften, gerade auch in Europa.

Als der Papst auf seiner Irak-Reise im März dieses Jahres die Ebene von Ur, von wo Abraham der Überlieferung nach aufbrach (vgl. Gen 11,31), besuchte, um an einer interreligiösen Begegnung mit lokalen Religionsführern teilzunehmen, waren dort keine jüdischen Vertreter anwesend, obwohl sich Franziskus in seiner Ansprache auch auf das Judentum bezog.14 So steht diese Leerstelle für die noch unerfüllte Hoffnung, „dass die Menschheitsfamilie für alle ihre Kinder gastfreundlich und aufnahmebereit werde; dass wir mit dem Blick zum selben Himmel in Frieden unseren Weg auf der gleichen Erde gehen.“15

Fußnoten

01 Dazu können des Weiteren Samaritaner, Mormonen, Bahai u. a. gezählt werden.

02 Vgl. dazu auch meine Rezension zu A.J. Silverstein/G.G. Stroumsa/M. Blidstein (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Abrahamic Religions, Oxford 2015, in: Medieval Encounters 26 (2020), 328–330.

03 Für weiterführende Literatur siehe M. Bauschke, Der Freund Gottes. Abraham im Islam, Darmstadt 2014; U. Bechmann, Abraham und die Anderen. Kritische Untersuchung zur Abraham-Chiffre im interreligiösen Dialog, Berlin 2019; S. Rupp, Mit Abraham aufbrechen. Theologische Entwürfe der Fraternité d’Abraham, Ostfildern 2020.

04 Vgl. dazu bspw. A.W. Hughes, Abrahamic Religions. On the Uses and Abuses of History, Oxford 2012. Hughes spricht von einem „theologischen Neologismus“ von begrenztem Erkenntniswert und fordert, ihn nicht zu verwenden.

05 Vgl. dazu K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, bes. 603–631. Zur Kritik an solchen Initiativen vgl. u. a. R. Buchholz, (De-) Constructing Abraham. Zu Jon D. Levensons Kritik der abrahamitischen Ökumene, in: G. Augustin/S. Sailer-Pfister/K. Vellguth (Hrsg.), Christentum im Dialog. Perspektiven christlicher Identität in einer pluralen Gesellschaft, Freiburg/Br. 2014, 349–361; G. Bristow, How Abrahamic is ‘Abrahamic Dialogue’?, in: Journal of European Baptist Studies 18 (2018), 7–21.

06 Vgl. dazu H. Zirker, Anmerkungen zum Dialog der „abrahamischen Religionen“, in: Moslemische Revue 22 [77] (2001), 130–142; in geringfügig geänderter Fassung abrufbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:465-20080516-133908-0 [Aufruf: 15.10.2021].

07 A. Goshen-Gottstein, Abraham and ‘Abrahamic Religions’ in Contemporary Interreligious Discourse. Reflections of an Implicated Jewish Bystander, in: Studies in Interreligious Dialogue 12 (2002), 165–183, hier 167, 172ff.

08 Vgl. ebd., 181f. Abraham wäre allerdings ungeeignet, jenseits monotheistischer Gottesvorstellungen, ganz zu schweigen von nichtreligiösen und säkularen Menschen, auf Zustimmung zu treffen.

09 Silverstein/Stroumsa/Blidstein, Introduction, in: dies. (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Abrahamic Religions, a.a.O., xiii–xvii, hier xv.

10 Vgl. z. B. Stroumsa, The Making of the Abrahamic Religions in Late Antiquity, Oxford 2015; ders., Religions d’Abraham. Histoires croisées, Genève 2017.

11 Vgl. z. B. die Rezension von G.R. Hawting zu Stroumsa, The Making of the Abrahamic Religions, a.a.O., in: Journal of Qur’anic Studies 19 (2017), 130–132.

12 So vermutet F. Eißler, Vom Dialog zum Trialog? Der christlich-muslimische Dialog im Angesicht des Judentums, in: Materialdienst der EZW 72 (2009), 243–256, hier 252.

13 Vgl. dazu T. Specker, Dialog aus sozialer Verbundenheit. Zum interreligiösen Profil der Enzyklika Fratelli tutti und der Erklärung von Abu Dhabi, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 105 (2021), 197–204.

14 Vgl. The New York Times v. 06.03.2021, abrufbar unter: https://nyti.ms/30kyPc5 [Aufruf: 15.10.2021].

15 Papst Franziskus, Ansprache bei einer interreligiösen Begegnung in der Ebene von Ur, 06.03.2021, abrufbar unter: https://bit.ly/3ngmjDA [Aufruf: 15.10.2021]. Vgl. dazu A. Jaje, Une visite du pape en Irak, lueur d’espoir pour tout un peuple, in: Mélanges de l’Institut dominicain d’études orientales 37 (2022) [im Erscheinen].

Der Autor

Dr. phil. Dennis Halft OP, Dipl.-Theol. (halft@institut-chenu.info), geb. 1981 in Bonn, Lehrstuhlverwalter mit Ruf (W3) des Lehrstuhls für Abrahamitische Religionen mit Schwerpunkt Islam und interreligiöser Dialog an der Theologischen Fakultät Trier, Senior Research Fellow am Institut M.-Dominique Chenu Berlin. Anschrift: Schwedter Straße 23, D-10119 Berlin. Veröffentlichung u. a.: Konfliktfeld Freitagsgebet. Reformfelder der muslimischen liturgischen Praxis, in: Gottesdienst 55 (2021) Heft Nr. 19, 209–211.