Editorial

Das Polyeder, auch ‚Vielflächner‘ genannt, ist ein dreidimensionaler Körper, der sich aus mehreren, auch verschiedenartigen ebenen Flächen zusammensetzt. Wie die Aluminium-Arbeit des italienischen Künstlers Getulio Alviani (1939–2018) auf der Titelseite zeigt, muss ein Polyeder weder ein Zentrum besitzen noch aus symmetrischen Flächen aufgebaut sein; dennoch bilden sie zusammen, in ihrer Verschiedenheit, eine Einheit. Das häufig von Papst Franziskus bemühte Bild des Polyeders (z. B. Evangelii gaudium [2013], 236; Fratelli tutti [2020], 215) kann auch für die heutige Situation im interreligiösen Dialog stehen: Keine Religion bildet in einer multireligiös-säkularen Gesellschaft (mehr) den Mittelpunkt, jede hat ihre eigenen theologischen Positionen und Besonderheiten, alle sind auf die eine oder andere Weise miteinander verwoben. Das gilt umso mehr für die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die jahrhundertelang dieselben geografischen Räume teilten.

Im vorliegenden Heft von WORT UND ANTWORT, das in Kooperation mit dem 2020 an der Theologischen Fakultät Trier eingerichteten ‚Lehrstuhl für Abrahamitische Religionen mit Schwerpunkt Islam und interreligiöser Dialog‘ entstanden ist, loten jüdische, christliche und muslimische Theolog:innen und Wissenschaftler:innen das Zu- und Miteinander ihrer Religionen aus. Warum verschieden religiöse Menschen einander ‚Gastfreundschaft‘ gewähren sollten, führt Ephraim Meir (Ramat-Gan) auf Grundlage der biblischen Überlieferung aus. Jehoschua Ahrens (Darmstadt) sowie Hana Bendcowsky (Jerusalem) im Gespräch mit Gregor Buß (Paderborn) blicken auf vergangene und gegenwärtige Trialog-Ansätze in Europa und Israel. Abualwafa Mohammed (Freiburg/Br.) zeigt das trialogische Potenzial des Korans im Kampf gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit auf. Ausgehend von historischen und theologischen Verflechtungen zwischen den drei Traditionen stellen Mira Sievers (Berlin) und Tobias Specker SJ (Frankfurt/M.) ihr Projekt einer „Intertheologie“ vor. Anja Middelbeck-Varwick (Frankfurt/M.) und Dennis Halft OP (Berlin/Trier) widmen sich unter den Rubriken ‚Wiedergelesen‘ und ‚Dominikanische Gestalt‘ zwei Vordenkern des interreligiösen Dialogs im deutsch- bzw. französischsprachigen Raum: Leo Baeck (1873–1956) und Bernard Dupuy OP (1925–2014). Das ‚Stichwort‘ führt in die Problematik, die mit der Wendung ‚abrahami(ti)sche Religionen‘ verbunden ist, ein.

Zu wünschen ist, dass die Beiträge Anregungen geben, wie Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen gemeinsam zu einer positiven Gestaltung unserer Gesellschaft beitragen können.

Dennis Halft OP