STICHWORT

Philosophie der Lebenskunst: (K)eine Anleitung zur Lebensführung

In ihrem 2016 erschienenen Roman erzählt Juli Zeh von einem intrigenhaften Kampf unter den Bewohner*innen des brandenburgischen Dorfes Unterleuten, in dem jene je auf ihren persönlichen Vorteil zielen und der schließlich zur Vernichtung des Dorfes führt. Zeh will ihren Roman als „absolut stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen“1 verstanden wissen. Denn „die Seite in uns, die empathisch, sozial, loyal ist, [steht] immer unter Legitimierungsbedarf. Die braucht immer Unterstützung durch eine Idee, eine Vision, eine Geschichte. Wir sind jetzt in einer Phase, in der das alles abgebaut ist und uns diese Geschichten fehlen. Deswegen hat das Eigeninteresse so ungeheuren Stellenwert bekommen und wir driften in eine große Infantilität ab.“2

Hinsichtlich der Philosophie der Lebenskunst ist ein Verweis interessant, der sich bereits im Paratext des Romans findet, und zwar auf das vermeintlich ein Jahr zuvor erschienene Buch „Dein Erfolg“ eines gewissen Manfred Gortz: ein Ratgeber, geschrieben „für alle, die wissen, dass es im Leben nur zwei grundlegende Kategorien gibt: Gewinnen und Verlieren. Und nur eine grundlegende Frage: auf welcher Seite willst du spielen?“3 Um auf der Gewinnerseite zu spielen, brauche man lediglich „ein paar schnell zu erlernende Techniken.“4

Ohne Recherche bleibt unklar, dass es sich bei Gortz wohl um eine von Zeh selbst inszenierte Kunstfigur handelt. Diese Unklarheit verflüssigt die Grenze zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und fiktionaler Romanwelt5 und wirft damit ihr Licht auf die postchristliche, pluralistische Gegenwartsgesellschaft: nach dem Ende der christianitas und dem damit verbundenen Verlust des christlichen Wertekodex verfügt sie – Fluch und Segen – über kein von allen geteiltes Äquivalent mehr. Das verlangt von den Individuen die selbstständige Entscheidung, ob, und wenn ja, was jeweils gilt und trägt. Ist der strategisch geschulte Wille zur Macht, d. h. die gortzsche Durchsetzungsmoral die Alternative der Wahl – oder führt sie nicht, wie im Roman, in die Vernichtung? Wie also leben?

Bewusst leben innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse: von der Disziplinargesellschaft zur Ethik als Lebenskunst

Dies sind Spannungsfeld und Fragestellung der postmodernen Philosophie der Lebenskunst, die v. a. Wilhelm Schmid ausgearbeitet hat. Ihr geht es nicht um „[d]ie reibungslose Gesellschaft oder […] die Selbstbehauptung des Individuums“6, sondern sie handelt von dem „Subjekt, das sich […] im Feld der Machtbeziehungen zu orientieren und Praktiken auszuarbeiten [vermag], die nicht von den herrschenden Machtverhältnissen normativ vorgegeben sind.“7 Was die Philosophie der Lebenskunst bedenkt, ist die Frage nach den Möglichkeiten und Formen einer bewussten Lebensführung in den gesellschaftlichen Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart, ohne deren Ambivalenzen durch Harmonisierung abzublenden oder das Gesetz des Stärkeren zum Prinzip des eigenen (Über-)Lebens zu erklären.

Dabei nahm Schmid Überlegungen von Michel Foucault auf. Auf der Grundlage eines Rückgangs „von der Moderne durch das Christentum hindurch zur Antike“8 kam dieser zu dem Ergebnis, dass, während „die moralischen Reflexionen der […] Antike weit mehr auf die Selbstpraktiken […] ausgerichtet waren als auf die Verhaltenskodifizierungen“9, die Moral im Christentum grosso modo eher als „Gehorsam gegenüber einem System von Regeln10 ausgearbeitet worden sei. Die gegenwärtige Situation zeichne sich umgekehrt dadurch aus, dass diese „Idee einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Kodex von Regeln […] verschwunden ist. Und diesem Fehlen einer Moral entspricht die Suche, muss eine Suche entsprechen, nämlich die nach einer Ästhetik der Existenz.“11 Es reicht nach Foucault nicht, sich lediglich mit der (Letzt-)Begründung von Normen zu beschäftigen, an denen sich menschliches Leben zu orientieren habe. Vielmehr müsse man sich mit der Ausarbeitung der Formen beschäftigen, in denen es sich material gestaltet. Dabei gehe es nicht um eine unmittelbare Applikation antiker Lebenskunsttexte auf die Gegenwart. Wohl aber zeige sich in diesen ein bestimmter Typ von Ethik als Ästhetik der Existenz, verbunden mit Formen der Ausarbeitung des eigenen Lebens als Kunstwerk, der in der Gegenwart erneut gefordert ist.12

Diese Intention nimmt die Philosophie der Lebenskunst auf. Letztlich handelt es sich bei ihr also „um die Frage nach einer neuen Ethik, einer Ethik als Lebenskunst.“13 So entdeckt sie den Alltag als „Ort des Anderslebens“14 innerhalb bestehender Machtverhältnisse. „Daher gehört es zur diagnostischen Arbeit im Umfeld der Ausarbeitung einer neuen Lebenskunst, aufzuweisen, wie moderne Normierung funktioniert.“15 Dies spiegelt die Genese der Philosophie der Lebenskunst, denn sie wurde nicht zuletzt „aufgrund einer Unzufriedenheit mit seiner [Foucaults, JNC] Arbeit über die Disziplinargesellschaft“16 erarbeitet. Wenn dort gezeigt worden war, „in welchem Ausmaß die Individuen der Überwachung und den verschiedensten Machttechniken unterliegen, so war hier die Frage aufzuwerfen, ob sie dem denn nichts entgegenzusetzen haben.“17

Darum enthält sie ein kritisches Moment gegenüber allen Versuchen, die Frage danach, wie man leben soll, unmittelbar durch praktische Anleitung zu beantworten oder sie umgekehrt achselzuckend zu dispensieren. Worum es ihr geht, ist folglich nicht „eine Theorie des guten Lebens, der nur noch nachzuleben wäre, […] sondern eine theoretische Erörterung all dessen, was, wenn eine reflektierte Lebenskunst zu realisieren versucht wird, klugerweise nicht ausser [sic!] Acht gelassen werden sollte.“18 Das heißt: um die theoriegeleitete Eröffnung eines Raumes für eine bewusste und widerständige Lebensführung jenseits einsamen Eigeninteresses oder infantiler Erlebnisbanalität.

Fußnoten

01 J. Zeh, „Werte sind nicht mehr in unserer DNA“. http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/autoren/805657_Werte-sind-nicht-mehr-in-unserer-DNA.html (Aufruf: 22.8.2017).

02 Ebd.

03 M. Gortz, Dein Erfolg, München ²2016, 13.

04 So schreibt Gortz auf seiner Homepage: http://manfred-gortz.de/erfolg.htm (Aufruf: 25.8.2017).

05 Vgl. zur Metafiktionalität in Unterleuten C. Brune/I. Henke, „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“ Wertereflexion ­zwischen Realität und Fiktion am Beispiel von Juli Zehs Unterleuten im Literaturunterricht, in: S. Anselm/S. Grimm/B. Wanning, Werte der Klassiker. Ankommen in Sprache und Kultur, Göttingen 2017 [im Druck].

06 W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M. 1991, 20.

07 Ebd., 32.

08 Ebd., 17.

09 Ebd., 42 [Hervorhebungen JNC]

10 M. Foucault, Eine Ästhetik der Existenz, in: ders.: Ästhethik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt/M. 2007, 280–286, hier 282 [Hervorhebungen JNC].

11 Ebd.

12 Vgl. ders., Die Rückkehr der ­Moral, in: ders.: Ästhetik der Existenz, a.a.O., 239–252, bes. 245–252.

13 W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M. 1991, 373.

14 Ebd.

15 Ebd., 258.

16 Ebd., 24.

17 Ebd.

18 Ders., Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998, 55.

Der Autor

Jan Niklas Collet, Mag. Theol. (collet@institut-chenu.info), geb. 1990 in Dortmund, Wiss. Mit­arbeiter am Institut M.-Dominique Chenu Berlin. Anschrift: Eulerstr. 10, D-13357 Berlin. Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Th. Eggensperger/U. Engel), Offene Ränder – vielgestaltige Zugehörigkeiten. Theologische Reflexionen zu einer pluralitätsfähigen und engagierten Kirche in Bewegung, in: M. Etscheid-Stams/R. Laudage-Kleeberg/Th. Rünker (Hrsg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg/Br. 2018, 208–288 (im Erscheinen).

Wort und Antwort 59 ( 2018), 2–4 | DOI 10.14623/wua.2018.1.2-4