Stichwort
Utopie
Utopien artikulieren eine Vorstellung davon, wie eine gerechte Gesellschaft oder die beste Form eines Gemeinwesens aussehen soll: Sie geben an, wie die grundlegenden Institutionen geordnet sein sollen und welche Rolle das Eigentum spielen beziehungsweise ob und wie die distributive Gerechtigkeit gestaltet sein soll. Damit möchten Utopien Antworten auf die beiden zentralen Fragen der politischen Theorie geben:
1. Welche (Freiheits-)Rechte und welche Pflichten besitzen die Mitglieder einer Gesellschaft?
2. Und wie soll mit dem Phänomen von Ansprüchen und Besitz umgegangen werden?
Die Utopie als Ausdruck des Gerechtigkeitssinnes
Insofern Menschen nur in Gemeinschaft leben können und sich durch diese entwickeln und entfalten, gehört es zu den Grundfragen von Menschen, wie eine solche Gemeinschaft gestaltet werden soll. Unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung der Ordnung muss davon ausgegangen werden, dass all diese Überlegungen auf einer Grundlage beruhen: dem Gerechtigkeitssinn. Dieser wurde zuletzt von J. Rawls wieder prominent in die moralphilosophische Diskussion eingebracht. Er fasst darunter das moralische Vermögen von Menschen, „die für die fairen Bedingungen der sozialen Kooperation bestimmenden Prinzipien der politischen Gerechtigkeit zu verstehen, anzuwenden und sich von ihnen zum Handeln motivieren zu lassen“1. Das heißt, der Gerechtigkeitssinn ermöglicht es uns, in einer Gesellschaft zu leben, indem wir die Bedingungen der Kooperation anerkennen und ihnen gemäß handeln. Jedoch muss diese Bestimmung des Gerechtigkeitssinnes geweitet werden, um das erreichen zu können, was der Gerechtigkeitssinn leisten soll: Er muss als Fähigkeit verstanden werden – genauer als vernünftige Fähigkeit. In diesem Sinne soll der Gerechtigkeitssinn basal als die vernünftige Fähigkeit verstanden werden, die es uns Menschen ermöglicht, in einer Gesellschaft zu leben. Um dies besser nachvollziehen zu können, soll im Folgenden kurz auf den Begriff der vernünftigen Fähigkeit eingegangen werden.
Der Begriff der vernünftigen Fähigkeit wurde von A. Kern 2006 für den Bereich der Erkenntnistheorie wieder aufgegriffen.2 Sie führt aus, dass Fähigkeiten allgemeine und zeitlich nicht festgelegte Handlungen zu etwas seien, die jedoch in bestimmten Akten aktualisiert würden. So kann sich beispielweise die Fähigkeit zum Fahrradfahren verwirklichen im bestimmten Akt des Fahrradfahrens, wenn ich vom Konvent zum Bäcker fahre. Dabei seien jedoch die Elemente, die unter die Aktualisierung fallen, nur verständlich, wenn sie als Teil einer Einheit, das heißt als Teil der Fähigkeit, verstanden würden, weshalb Kern ausführt, dass die Elemente der Fähigkeit eine konstitutive Einheit bilden, da sie in formal logischer Abhängigkeit zur Fähigkeit stehen. So kann beispielsweise das schwungvolle Heruntertreten des Pedals mit dem Fuß bei gleichzeitigem Anheben des anderen Fußes nur verstanden werden als Teil der Fähigkeit Fahrrad zu fahren.
Zusätzlich sei es ein Merkmal, dass eine vernünftige Fähigkeit einen normativen Charakter besäße. Das heißt, dass die Fähigkeit zum Ausdruck bringt, was man tun soll und dass sie einen Maßstab bereit stellt, was gemäß der Fähigkeit das Richtige sei, das zu tun ist. Aus diesem Grund kann gesagt werden, dass eine Fähigkeit die Möglichkeit zur Beurteilung einer Handlung, die unter die Fähigkeit fällt, ermöglicht.
Mit Hilfe der Fähigkeit können jedoch auch Vollzüge erklärt werden und das in einem zweifachen Sinne: Zum einen können mit Bezug auf die Fähigkeit die gelingenden Akte, die unter die Fähigkeit fallen, erklärt werden, aber zum anderen auch jene, die nicht gelingen, aber dies in einem anderen Sinne. An dieser Stelle wird das Scheitern der Ausübung der Fähigkeit erklärt, indem auf partikulare Umstände verwiesen wird, die das Aktualisieren der Fähigkeit verhindern. Das bedeutet, dass ein Mensch ein Verständnis von seiner Fähigkeit besitzt, weshalb er sich überlegend auf die Fähigkeit und Umstände beziehen kann und somit in der Lage ist, überlegte Entscheidungen zu fällen, was unter den vorliegenden Umständen das gemäß der Fähigkeit zu Tuende ist. Am Fahrradfahren lässt sich dieser Aspekt wiederum einfach verdeutlichen: Wenn ich die Fähigkeit zum Fahrradfahren besitze, kann ich mein aktuelles Fahren zum Bäcker mit Hilfe der Fähigkeit vollständig erklären, indem ich auf meine Fähigkeit verweise. Ich kann jedoch auch das Scheitern der Fähigkeit erklären, indem ich Umstände aufzeige, warum ich mit dem Fahrrad gestürzt bin, z. B. weil die Straße vereist war. Wichtig ist hierbei insbesondere der Aspekt, dass, wenn ich im Besitz einer vernünftigen Fähigkeit bin, ich auch über ein Bewusstsein der für diese Fähigkeit notwendigen Bedingungen beziehungsweise Umstände verfüge.
Auf dieser Grundlage kann nun gefolgert werden, was eine Utopie auszeichnet, wenn angenommen wird, dass es sich bei dieser um die Artikulationen einer durch den Gerechtigkeitssinn gebildeten Überzeugung handelt: Von einer Utopie kann abstrakt – das heißt unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung – gesagt werden, dass es sich um eine allgemeine und zeitlich nicht festgelegte Idee davon handelt, wie Menschen gut in einem Gemeinwesen zusammenleben können. Ihre Elemente bilden eine konstitutive Einheit, was bedeutet, dass ihr Sinn nur im Kontext der gesamten Utopie verständlich wird und nicht unabhängig von der Utopie analysierbar ist. Eine Utopie bildet somit ein Gesamtkunstwerk. Des Weiteren bildet die Utopie einen normativen Maßstab: Sie gibt an, welches Handeln im Sinne der Fähigkeit, in einem Gemeinwesen zusammenzuleben, das Richtige ist: Im Fall des Gerechtigkeitssinns könnte man sagen, dass die Utopie den Maßstab der Gerechtigkeit darstellt. Abschließend ist eine Utopie erklärend. Dabei ist zu beachten, dass sich der erklärende Charakter auf die Umstände bezieht, unter denen die Menschen gut in einer Gesellschaft zusammenleben können. Die Utopie gibt also Bedingungen an, unter denen der Gerechtigkeitssinn aktualisiert werden kann, weshalb es mit ihrer Hilfe auch möglich ist, in einem bestehenden Gemeinwesen Fehlentwicklungen zu identifizieren, die das gelungene Zusammenleben von Menschen erschweren.
Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass eine Utopie in dieser Sichtweise eine potentiell verwirklichbare, zusammenhängende Vorstellung des gelungenen Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft ist, die einen Maßstab für das richtige Handeln bereitstellt und die notwendigen Umstände für die Verwirklichung der Gerechtigkeit artikuliert.
Das Ziel der Utopie: Gerechtigkeitspädagogik
Mit dieser Bestimmung ist jedoch noch keine hinreichende Beschreibung des Phänomens der Utopie vorgenommen, da noch mindestens ein wichtiger Aspekt fehlt: die Motivation zum Verfassen einer solchen. Diesen kann man erkennen, wenn man sich ein weiteres Merkmal einer vernünftigen Fähigkeit verdeutlicht: Vernünftige Fähigkeiten werden erlernt. Das bedeutet, dass ich nur in den Besitz eines solchen Vermögens gelangen kann, wenn ich die Fähigkeit ausübe. Systematisch scheint dies jedoch ein Problem darzustellen, da ich in dieser Perspektive eine Fähigkeit ausüben müsste, in deren Besitz ich nicht noch nicht bin. Eine Lösung scheint: Um eine vernünftige Fähigkeit zu erlangen, benötige ich die Hilfe von jemanden, der bereits im Besitz der Fähigkeit ist.
Insofern die Utopie eine Verschriftlichung des Gerechtigkeitssinns darstellt, kann angenommen werden, dass sie solch eine Lehrerin des Gerechtigkeitssinnes für den Leser oder die Leserin sein möchte. – Es geht im ersten Schritten um das Nachdenken. Aus diesem Grund verfolgen Utopien ein wesentlich gerechtigkeitspädagogisches Ziel. Sie wollen zur Ausbildung des Gerechtigkeitssinns bei den Leserinnen und Lesern beitragen und tun dies in unterschiedlichen Gestalten:
Im Rahmen der klassischen Utopie wird im Wesentlichen zwischen zwei Hauptformen unterschieden: die Raum- und die Zeitutopie.3 Die Raumutopie verlagert die Beschreibung der besseren Welt zeitgleich zum Jetzt an einen anderen Ort. Ihre grundlegende Argumentationsform lautet: „Was denkbar ist, kann auch in der Realität existieren.“4 Das heißt die Raumutopie stellt die bessere Welt als eine in unserer Wirklichkeit existierbare rationale(re) Möglichkeit dar, die Wirklichkeit werden kann, wenn man den entsprechenden Prinzipien folgt und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpasst. Die Zeitutopie verlagert die „Beste aller Welten von der Gegenwart im Raum in die Zukunft“5. Ihr Duktus ist wesentlich drängender. Indem die Utopie in die Zukunft verlagert wird, stellt sich für den Rezipienten der Utopie die Frage, warum auf eine ferne Zukunft gewartet werden solle, wenn doch die Prinzipien und Umstände rational und potentiell realisierbar wären: Zeitutopien tragen in sich den Kern der Revolution.6
Anfragen an die Utopie: Die Dystopie
Utopie ist vom griechischen ou/eu und dem lateinischen topos abgeleitet und bedeutet damit Nichtort bzw. Nirgendwo oder guter Ort. Dieses Wortspiel wurde von dem englischen Lordkanzler Thomas Morus (* wahrscheinlich 1478; † 1535) passend gewählt, insofern die Umsetzung des Gerechtigkeitssinns ein guter Ort sein muss – zumindest aus der Perspektive des Nachdenkenden. Er ist gleichzeitig eine noch nicht umgesetzte Idee, die jedoch potentiell aktualisierbar ist.
Vor dieser Umsetzung warnt jedoch die Dystopie. Sie steht in Opposition zur Utopie, was auch die griechische Vorsilbe dys (schlecht, übel) deutlich macht. Eine Dystopie ist somit der schlechteste aller möglichen Orte, der analytisch auf der gleichen Ebene steht wie der utopische Raum, insofern auch die Dystopie eine nachträgliche Artikulation des Gerechtigkeitssinns ist, die sich jedoch in den Ausgangsannahmen wesentlich von denen der klassischen Utopien unterscheidet.
Die klassischen Utopien entstanden in der frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der damaligen Annahmen zur Anthropologie: die Gleichheit des Menschen stand im Vordergrund. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem offensichtlichen Scheitern der großen Ideologien wurde dies jedoch immer kritischer gesehen und Gegenentwürfe formuliert.7
Utopien (und auch Dystopien – wenn auch unter anderen Vorzeichen) versuchen somit ein Lehrstück für eine gerechtere Ordnung zu sein. Sie regen zum Nachdenken an, möchten Prinzipien der Gerechtigkeit einsichtig machen und warnen vor Fehlentwicklungen.
Fußnoten
01 J. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt/M. 2006, 44.
02 Vgl. folgend: A. Kern, Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frankfurt/M. 2006, 184, 247.
03 Vgl. R. Saage, Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997, 9.
04 Vgl. P. Nitschke, Utopie, in: Grundbegriffe der Politik, hrsg. v. M. Schwarz, K. Breier u. P. Nitschke, Baden-Baden 2015, 198.
05 Ebd., 199.
06 Vgl. ebd.
07 Vgl. ebd., 200.
Der Autor
Gregor Naumann OP, Dipl. Theol. (gregor.naumann@dominikaner.de), geb. 1988 in Leinefelde, Lehrer. Anschrift: Dominikanerweg 45, D-49377 Vechta. Veröffentlichung u. a.: Transparenz – eine erste Annäherung, in: Wort und Antwort 54 (2013), 98–100.