Editorial

In den ersten hundert Tagen seiner Präsidentschaft habe Donald Trump, so die Recherche der „Washington Post“ (Online-Ausgabe v. 1.5.2017), exakt 492 Mal falsche oder irreführende Aussagen in die Welt gesetzt; nur an zehn dieser hundert Tage habe der US-Präsident keine solchen „false or misleading claims“ von sich gegeben. Nun ist in der Politik das Lügen nicht unbedingt etwas Neues, doch Ausmaß und Unverfrorenheit, mit der Trump dies tut, erschüttern nicht wenige Menschen. Dies gilt umso mehr, als dass das Wahrsprechen seit der Antike als unabdingbare Voraussetzung allen guten (demokratischen) Regierens gilt. Michel Foucault (1926–1984), der in diesem „Wort und Antwort“-Heft verschiedentlich zitiert wird, definierte Selbstsorge und freimütiges Sprechen (griech.: Parrhesia, παρρησία) als die zwei zentralen Bedingungen jedweder Gouvernementalität.

Die Beiträge zur vorliegenden „Wort und Antwort“-Ausgabe tragen in ihrer Gesamtheit dieser doppelten – individuellen wie öffentlichen, subjektiven wie politischen – Verfasstheit der Parrhesia Rechnung: In psychologischer Hinsicht befasst sich Agnes Lanfermann MMS (Limburg) mit der Angst, die das Aussprechen von (unliebsamen) Wahrheiten auslösen kann – einschließlich den Weisen ihrer Überwindung. Thomas Eggensperger OP (Berlin – Münster), Christian Hengstermann (Münster) und Jadranka Brnčić (Samobor/Kroatien) betrachten den παρρησία-Begriff in philosophischer, historischer und biblischer Perspektive. Isabelle Senn (Bern/Schweiz) fragt nach der Parrhesia des Evangeliums und ermittelt Konsequenzen, die das jesuanische Wahrsprechen für die kirchliche Verkündigung hat. Für solch eine freimütige Predigt steht der auf dem Umschlag des Heftes abgebildete Predigerbruder Anton Montesinos OP, der 1511 zusammen mit der gesamten Dominikanerkommunität von Santo Domingo lautstark – „gelegen oder ungelegen“ (2 Tim 4,2) – für die von spanischen Siedlern ausgebeutete indigene Bevölkerung eintrat. Jan Niklas Collet (Köln) untersucht die angesichts erstarkter neurechter Ideologien wahrnehmbare Vertrauenskrise in politische Institutionen und Prozesse in befreiungstheologischer Perspektive. Die Porträts zweier beeindruckender Persönlichkeiten – vorgestellt werden von Judith Moormann OP (Eltville-Erbach) der unkonventionelle Dominikaner Anatol Feid OP (1942–2002) und von Annette Schavan (Ulm) Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker (1920–2015), letztgenannter unter besonderer Berücksichtigung seiner freimütigen Rede zum 8. Mai 1985 – beschließen das Heft.

Ulrich Engel OP