Bernhard Nitsche/Matthias Remenyi (Hrsg.), Problemfall Offenbarung. Grund – Konzepte – Erkennbarkeit, Verlag Herder Freiburg/Br. 2022, 688 S., € 58,–.

Die Frage der Offenbarung ist spätestens seit dem Beginn der Neuzeit zu einem Problem geworden und je mehr die spätere Philosophie der Aufklärung die Kategorie der Offenbarung kritisierte, desto mehr rückte sie in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens und der Theologie. Das Christentum wird jetzt als Offenbarungsreligion gekennzeichnet und die Theologie versteht sich nun, in Abgrenzung von den empirischen Wissenschaften und der Philosophie, als „Offenbarungswissenschaft“. Seit dieser Zeit dreht sich die theologische Reflexion nicht zuletzt um das Verständnis der Offenbarung und es zeigt sich, dass es gerade heute auch im deutschsprachigen Raum der Theologie zu einer echten Renaissance der Offenbarungsthematik gekommen ist, in der aber, wie die Herausgeber der oben genannten Aufsatzsammlung meinen, die Offenbarung wieder zum „Problemfall geworden [ist], an dem sich die Geister scheiden“ (12). Auslöser dieser Debatte und über weite Strecken der rote Faden, der die einzelnen Aufsätze verbindet, ist die Offenbarungstheologie von Saskia Wendel, die seit einiger Zeit die Position vertritt, dass die Offenbarung nicht als Grund des Glaubens zu begreifen ist, sondern als eine Deutekategorie, in der Religionen als Formen der Selbst- und Weltdeutung begriffen werden, in denen die „Offenbarung“ als Moment dieser religiösen Deutung der Wirklichkeit gesehen wird, d. h. als ein der kreativen Freiheit und der Vernunft selbst entspringender Akt der Interpretation. „Offenbarung ist somit kein Gegenüber zur Vernunft, welche erst mit dieser vermittelt werden muss, auch kein eigenständiges Erkenntnisprinzip, welches Gehalte vermittelt, die die Vernunft nicht aus sich selbst denken kann, somit auch kein ‚aufhelfender‘ Zusatz zur Vernunfterkenntnis. Im Gegenteil gibt es keine Gehalte, die die Vernunft nicht aus sich selbst heraus zu denken in der Lage ist, auch keine religiösen.“ (105)

Neben zwei einleitenden Aufsätzen, die sich mit der Geschichte der katholischen und evangelischen Offenbarungstheologie der letzten beiden Jahrhunderte beschäftigen, bezieht sich der Großteil der anderen Beiträge des Sammelbandes direkt oder indirekt auf die Position von Wendel, auch wenn die dezidierte Gegenposition, wie sie zum Beispiel von Benedikt Paul Göcke vertreten wird, im Sammelband nicht vorkommt. Dennoch bieten die einzelnen Aufsätze einen hervorragenden Überblick über den Stand der Diskussion über den Begriff der Offenbarung in der deutschsprachigen Theologie. Neben der bereits genannten Frage nach der Offenbarung als einer Deutekategorie oder dem Grund des Glaubens wird auch nach der Erkennbarkeit der Offenbarung als einem geschichtlichen Ereignis gefragt, nach dem Verhältnis zwischen der Freiheit des Menschen und dem von außen kommenden Anspruch einer Offenbarung, den interkulturellen und religionstheologischen Perspektiven des Offenbarungsbegriffes und nicht zuletzt nach der Rolle des Offenbarungsbegriffes in der Schuld- und Missbrauchsgeschichte der Kirche. Der letzte Punkt wird auch in den einzelnen Beiträgen immer wieder angesprochen, denn es wird ja über den Offenbarungsbegriff die Frage gestellt, wer die Macht hat, etwas inhaltlich als Gottes Wort zu deuten und ihm gegenüber Gehorsam einzufordern. So schreibt M. Remenyi: „Die eigentliche Herausforderung der tiefen Krise um Machtmissbrauch und Klerikalismus, sexuelle und geistliche Gewalt im Raum der katholischen Kirche liegt in einer angemessenen Neujustierung des Offenbarungsbegriffes“ (151). Diese Herausforderung wird von Ruben M. Schneider am Ende dieses Sammelbandes am Beispiel der kirchlichen Schuldgeschichte gegenüber homosexuellen Menschen dargestellt und sie führt ihn zu der Frage, wie tief eigentlich eine notwendige Korrektur kirchlicher Homosexuellenfeindlichkeit in das Selbstverständnis der Tradition und des Offenbarungsbegriffes eingreifen müsste.

Der vorliegende Sammelband kann diese Frage sicher nicht beantworten, aber er zeigt doch Perspektiven auf, wie eine komplexe und vielgestaltige Debatte über eines der zentralen Grundwörter des christlichen Glaubens aussehen könnte, denn mit der Offenbarung geht es ja um nicht weniger als um die Frage der Möglichkeit und der im Glauben erkannten Tatsache der geschichtlichen Mitteilung der unbedingt für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes.

Carsten Barwasser OP, Köln