Stichwort

Gottes Offenbarung im vulnerablen Fleisch

Die Offenbarungskonstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils thematisiert u. a. den inneren Konnex von Offenbarung und Inkarnation: „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1,9): dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2,18; 2 Petr 1,4).“ (DV 2)

Offenbarung – von mir verstanden als Selbstmitteilung Gottes und somit verdankter Grund des Glaubens auf der einen und als vernünftige theologische Interpretationskategorie auf der anderen Seite – zielt auf die Menschen in ihrer geschichtlichen Situiertheit. Das Bindeglied, welches das göttliche Entgegenkommen und die menschliche Erfahrung in dem Geschehen in Kontakt zueinander bringt und hält, ist Christus, das fleischgewordene Wort (vgl. Joh 1,14). In ihm offenbart sich das „Heil von Gott her“1 in der Geschichte. Beim Offenbarungsbegriff haben wir es also mit einem „gott-menschlichen Interferenzbegriff“2 zu tun.

Inkarnation, Natalität und Kenosis

An Weihnachten feiert das Christentum die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret. Gott wird Fleisch in einem neugeborenen Kind. Der Fachterminus dafür ist „Inkarnation“. Natalität und Inkarnation kommen hier zusammen.3 In den frühen christologischen Diskursen suchte man mit dem Argument der Gottes-Natalität Jesu verschiedensten gnostischen Positionen entgegenzutreten4, so etwa dem Doketismus, der dem göttlichen Jesus bloß einen Scheinleib zuzubilligen bereit war. Gegen diese Schein-Leib- bzw. Verkleidungs-These bezog bereits der 1. Johannesbrief Stellung: „Jeder Geist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleisch gekommen, ist aus Gott.“ (1 Joh 4,2b)

Gott offenbart sich „im Fleisch“ eines schutzbedürftigen, höchst vulnerablen Säuglings, der als hilfloses Neugeborenes lebensbedrohlichen Risiken – Gewalt, Diskriminierung und Angst – ausgesetzt ist. Das Lukasevangelium weiß um die Gefährdung des Kindes wie der Eltern, wenn es von der hochschwangeren Maria erzählt, der niemand einen geschützten Raum für die Geburt ihres Babys zur Verfügung zu stellen bereit war. Lukas schildert in aller Ausführlichkeit die Vulnerabilität, der die fragile Familie durch die gewalttätigen Machtambitionen des Königs Herodes und die dadurch erzwungene Flucht nach Ägypten ausgesetzt ist.

Mit seiner κένωσις (Selbsterniedrigung) in Jesus von Nazaret begibt sich Gott in die Niederungen dieses gefährdeten Lebens (vgl. Phil 2). In Gestalt des fleischgeborenen Sohnes setzt er sich „den Mächten der naturalen, sozialen und kulturellen Destruktion aus.“5 Die englische Bibelausgabe „New International Version“ übersetzt radikal: „he made himself nothing6. Theologisch gesprochen: „Menschwerdung hat ihren Preis. Sie bedeutet, sich berührbar zu machen, verletzlich zu werden, sich auszusetzen, angreifbar zu sein und womöglich auch verletzt zu werden. Wir kommen nicht ungeschoren davon. Wenn ich an Karfreitag denke: auch G*tt nicht.“7 Das Risiko der kenotisch-inkarnatorischen Hingabe ist das Kreuz.

Wider die Utopie der Unverwundbarkeit

Die COVID-19-Pandemie hat uns die Verletzlichkeit der Menschen überall auf dem Globus wie auch die der ganzen Zivilisation drastisch vor Augen geführt. Die aktuellen Debatten zum Thema Vulnerabilität in Materialwissenschaften, Migrations- und Armutsforschung, Klimafolgenabschätzung, Militärstrategie, Global Health Studies, philosophischer Ethik oder Stadtentwicklung (um nur einige Felder zu nennen) zielen fast immer auf die destruktive Macht, die in zukünftigen Verletzungen liegt. In diesem Sinne wird nach Ressourcen geforscht, die dazu verhelfen, bereits jetzt schon resilient gegenüber später drohenden Verwundungen zu werden. Mehr noch geht es darum, zukünftig erst gar keine Verletzungen zuzulassen. In dieser Zielsetzung spiegelt sich – oftmals unausgesprochen – die Utopie einer Unverwundbarkeit.

Ich meine, dass das Christentum mit Gottes Selbstoffenbarung in der Geburt von „Poor little Mary’s boy“8 eine Alternative aufzeigt, wie wir mit der anthropologischen Tatsache unserer vulnerablen Verfassung umgehen können. „Auf die Risiken des Lebens und die Wunden der Welt antwortet Gott nicht, indem er sich unverwundbar macht und unverwundbar bleibt. Vielmehr geht er das Risiko der Verwundbarkeit ein.“9 Im Blick auf das in der weihnachtlichen Offenbarung zugesprochene Heil/Glück gilt: „Heil von Gott her [besteht] nie darin (…), daß Gott uns aus unserer Endlichkeit und aus allem, was diese mit sich bringt, erretten wird. (…) Das bedeutet aber auch, daß er unser Gott sein will in unserer Menschlichkeit und für unsere Menschlichkeit, in und bei unserer Endlichkeit.“10

In dieser Perspektive behauptet die christliche Tradition, dass es neben den sicherlich notwendigen Vermeidungsstrategien ebenso das Wagnis der Verwundbarkeit braucht. Mehr noch hoffen Christ*innen darauf, dass aus der Bereitschaft, sich für andere, bevorzugt für Schwächere und Ausgegrenzte, verwundbar zu machen, eine Macht des Empowerments erwachsen kann. „Die Inkarnationschristologie bringt in den Auseinandersetzungen um Risiken, Sicherheit und Schutz das Wagnis der Hingabe ins Spiel. Sie setzt auf diese andere Lebensmacht, die im Wagnis der Verwundbarkeit entsteht.“11

Vulnerabilität und Missbrauch

Hier könnte mein „Stichwort“ enden – wenn da nicht der vielfache sexuelle und geistliche Machtmissbrauch in der katholischen Kirche und seine langanhaltende Vertuschung wären.

Nach Ansicht von Matthias Remenyi ist die „Offenbarungsfrage […] das Einfallstor für vielgestaltigen Machtmissbrauch“12. Oliver Wintzek nimmt diesen Zusammenhang genauer in den Blick, wenn er einen „nur oberflächlich modifizierten Offenbarungspositivismus auctoritate divina13 dafür verantwortlich macht, dass sich die Kirche insgesamt und manche ihrer amtlich bevollmächtigten Mitarbeiter zu exklusiven, den Zugang zum göttlichen Heil kontrollierenden und sanktionierenden Mittlergestalten der göttlichen Offenbarung aufschwingen.

Die 2018 veröffentlichte Studie zum „Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“14 benennt in diesem Zusammenhang klerikalistische Selbstanmaßung, theologisch überhöhte Amtszuschreibungen, pervertierte Dienst-Macht-Selbstbilder, ideologisierende Sakralisierungen, männerbündische Sonderwelten und manches mehr. Damit können die missbräuchlichen Übergriffe nicht bloß den Tatkonten einzelner angerechnet werden, sondern müssen zugleich als systemisches Totalversagen einer klerikalen Kirchengestalt wie auch ihrer offenbarungspositivistischen Theologie begriffen werden. Vor diesem Hintergrund ist es m. E. vertretbar, mit Ruben Schneider von einer gescheiterten Kirche, einer „failed church“15 zu sprechen. Eine failed theology kommt dazu.

Erst eine Kirche, die ihre institutionelle Fehlbarkeit anerkennt und sich den offenbarungstheologischen wie den ekklesiologisch-strukturellen Gründen dieses Problems selbstkritisch stellt, kann sich den Wunden und der Verwundbarkeit anderer annehmen. Erst so kann sie – vielleicht – wieder glaubwürdige Zeugin der Offenbarung im vulnerablen Fleisch werden.

Fußnoten

01 E. Schillebeeckx, Weil Politik nicht alles ist. Von Gott reden in einer gefährdeten Welt. Aus dem Niederländischen von U. Ruh, Freiburg/Br. 1987, 18.

02 B. Nitsche/M. Remenyi, Einleitung, in: dies. unter red. Mitarbeit von A. Slunitschek (Hrsg.), Problemfall Offenbarung. Grund – Konzepte – Erkennbarkeit, Freiburg/Br. 2022, 9–16, hier 10.

03 Vgl. dazu E. O’Donnell Gandolfo, A Truly Human Incarnation: Recovering a Place for Nativity in Contemporary Christology, in: Theology Today 70 (2013), 382–393; H. Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 31983.

04 Vgl. E. Klinger, Die Gottesgeburt. Eine Botschaft der ersten vier Konzilien, in: ders., Christologie im Feminismus. Eine Herausforderung der Tradition, Regensburg 2001, 241–269, bes. 249.

05 G. Thomas, Das Kreuz Jesu Christi als Risiko der Inkarnation, in: ders./A. Schüle (Hrsg.), Gegenwart des lebendigen Christus (FS M. Welker), Leipzig 2007, 151–179, hier 170.

06 Zit. nach https://www.biblegateway.com/passage/?search=Phil+2%3A7&version=NIV [Aufruf: 19.06.2023; Hervorhebung U.E.].

07 R. Soden, Von Strohhalmen und Menschwerdung und warum manchmal in Kneipen eher Weihnachten wird als in der Kirche: https://y-nachten.de/2022/11/von-strohhalmen-und-menschwerdung-und-warum-manchmal-in-kneipen-eher-weihnachten-wird-als-in-der-kirche [Aufruf: 19.06.2023].

08 D.S. Williams, Rituals of Resistance in Womanist Worship, in: M. Procter-Smith/J.R. Walton (Hrsg.), Women at Worship: Interpretations of North American Diversity, Louisville, KY 1993, 215–223, hier 217.

09 H. Keul, Inkarnation – Gottes Wagnis der Verwundbarkeit, in: Theologische Quartalschrift 192 (2012), 216–232, hier 230.

10 E. Schillebeeckx, Die Auferstehung Jesu als Grund der Erlösung. Zwischenbericht über die Prolegomena zu einer Christologie. Aus dem Niederländischen von H. Zulauf (Quaestiones Disputatae Bd. 78), Freiburg/Br. 1990, 135.

11 Keul, Inkarnation, a.a.O., 231.

12 M. Remenyi, Staunen nur kann ich und staunend mich freu’n. Versuch über Offenbarung, in: Nitsche/Remenyi (Hrsg.), Problemfall Offenbarung, a.a.O., 146–180, hier 151.

13 O. Wintzek, Offenbarung? – Kritische Rekonstruktion missbräuchlicher Pastoralmacht, in: J. Sautermeister/A. Odenthal (Hrsg.), Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologische Analysen eines systemischen Problems, Freiburg/Br. 2021, 101–115, hier 113.

14 H. Dreßing u. a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim – Heidelberg – Gießen 2018, https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf [Aufruf: 19.06.2023].

15 R.M. Schneider, Turpitudo contra naturam masculi in masculos. Offenbarung, Tradition und homophobe Schuldgeschichte der Kirche, in: Nitsche/Remenyi (Hrsg.), Problemfall Offenbarung, a.a.O., 629–673, hier 631.

Der Autor

Dr. theol. habil. Ulrich Engel OP (engel@institut-chenu.info), geb. 1961 in Düsseldorf, Direktor des Institut M.-Dominique Chenu Berlin, Gründungsbeauftragter und Prof. für Philosophisch-theologische Grenzfragen am Campus für Theologie und Spiritualität Berlin. Anschrift: Schwedter Straße 23, D-10119 Berlin. Veröffentlichung u. a.: Auf der Suche nach einer politischen Spiritualität in postmetaphysischen Konstellationen. Systematisch-theologische Erkundungen mit Johann Baptist Metz und John D. Caputo, in: A. Krebs/R. Nientiedt (Hrsg.), Freiheit und Nachfolge. Alt-katholische Beiträge zu Kirche und Politik, Bonn 2023, 31–47.