Gerechtigkeit | Eine Ermessenssache (3/2024)
Eggensperger, Thomas
Gerechtigkeit ist eine höchst relevante Tugend, sie ist präsent im gesellschaftlichen Diskurs, aber je mehr man sich mit ihr befasst, desto deutlicher wird, wie sehr sie nach Abwägung verlangt. „Gerechtigkeit – eine Ermessenssache“, so lautet das Thema dieses Heftes, dessen Intention es ist, das Spektrum des Gerechten aufzufächern.
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Stichwort
Leniger, Katharina
Glaubt man einer Umfrage, die im „Focus“ im Jahr 2021 veröffentlicht wurde, hielten 55 % der etwa 1.300 Befragten Urteile deutscher Gerichte als allgemein zu milde, sogar 58 % empfanden die Rechtsprechung als uneinheitlich. Ersichtlich wird daran, dass gesprochenes Recht als ungerecht empfunden werden kann: als zu lasch oder zu streng, als unverhältnismäßig in Bezug auf das Leid der Geschädigten. Die intuitive Annahme hinter dieser Empörung lautet, dass das Recht auch gerecht sein muss. Aber muss es das? Oder etwas zugespitzter formuliert: Darf Recht auch ungerecht sein? Formuliert man diese Problemstellungen allgemeiner (und abstrakter), lässt sich fragen, in welchem Verhältnis Recht und Gerechtigkeit zueinander stehen. Unbestritten liegt damit ein großes, wenn nicht das zentrale Thema der Rechtsphilosophie vor, das hier nur anhand ausgewählter Schlaglichter betrachtet werden kann.
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Bormann, Franz-Josef
Der Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ gehört zu den wichtigsten und komplexesten, zugleich aber auch zu den am stärksten von Verflachung und ideologischer Verzerrung bedrohten Kategorien unserer Moralsprache. Für die meisten Zeitgenossen bedeutet Gerechtigkeit – vor allem dann, wenn sie mit dem schillernden Attribut ‚sozial‘ verknüpft wird – einfach so viel wie ‚Verteilungsgerechtigkeit‘. Eine solche Sichtweise beruht zumeist auf einem Verständnis des Staates als einer Sozialagentur, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, durch möglichst zielgenaue Transferleistungen die verschiedenen Notlagen der Bürger zu lindern. Obwohl demokratische Staaten zweifellos unter anderem auch eine Sozialfunktion zu erfüllen haben, ist diese Sichtweise allein schon deswegen zu einfach, weil sie das spannungsreiche Verhältnis von Kontribution und Distribution einseitig zum Pol der Umverteilung auflöst und damit genau jene Dimension der Leistungsgerechtigkeit ausblendet, die eine notwendige Voraussetzung für sozialstaatliche Maßnahmen darstellt. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Elemente einer leistungsgerechten Ordnung des Gemeinwesens in den letzten Jahrzehnten immer stärker marginalisiert wurden, ist zunächst ein kurzer Blick in die philosophische Tradition zu werfen. Im Anschluss daran soll an drei Beispielen gezeigt werden, dass eine Rückbesinnung auf den Kerngehalt der Leistungsgerechtigkeit unverzichtbar ist, um strukturelle Fehlsteuerungen unserer sozialen Sicherungssysteme zu korrigieren.
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Batlogg, Andreas R.
Bei einem Papst kann das nicht weiter überraschen, sollte man meinen: Schon in seinem ersten Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ (November 2013) betonte Franziskus, er wolle Glaube nicht auf Innerlichkeit reduziert und Nächstenliebe „nicht als eine bloße Summe kleiner persönlicher Gesten gegenüber irgendeinem Notleidenden“ verstanden wissen, was „einer Art ,Nächstenliebe à la carte‘“ gleichkäme (EG 180). Christlicher Glaube ist für den ehemaligen Erzbischof von Buenos Aires immer auch politisch. Er will Gesellschaft mitgestalten, weil er sich für das Reich Gottes einsetzt, das nicht bloße Theorie ist – und damit eckt er zwangsläufig an, wenn er bestehenden politischen Interessen in die Quere kommt: „Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schließt immer den Wunsch ein, die Welt zu verändern“ – mit der Konsequenz, dass Christen beim Bemühen um eine gerechte Ordnung von Staat und Gesellschaft „nichts abseits“ (EG 183) stehen können.
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Kruip, Gerhard
Gerechtigkeit kann sicherlich nicht deshalb als „Ermessenssache“ bezeichnet werden, weil es in das Belieben der Einzelnen gestellt wäre, was sie unter Gerechtigkeit verstehen und wie sie sie umsetzen. Sehr wohl aber bedeutet Gerechtigkeit nicht in allen Situationen das gleiche und es ist auch gar nicht so eindeutig zu fassen, wann und wo welche der verschiedenen „Gerechtigkeiten“ in Anschlag zu bringen sind. Ich möchte im Folgenden den Gerechtigkeitsbegriff ausdifferenzieren und zeigen, wie sich unterschiedliche Arten von Gerechtigkeit in ihrer effektiven Realisierung wechselseitig voraussetzen und welche Schlüsselrolle dabei die Forderung nach Beteiligungs- und deshalb auch nach Bildungsgerechtigkeit einnimmt.
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Lintner, Martin M.
In der Galleria Borghese in Rom kann ein Werk des venezianischen Malers Tiziano Vecellio bewundert werden, Amor sacro e Amor profano, ein um 1514 entstandenes Auftragswerk anlässlich einer Hochzeit.1 Der Amor sacro, die himmlische Liebe, ist nackt und rein, im hellen Licht und unverhüllt den Blicken ausgesetzt, umwallt von einem Tuch in Rot, der Farbe der göttlichen Liebe; im Hintergrund weist ein Kirchturm wie ein Finger zum Himmel; der Amor profano hingegen, die irdische Liebe, ist in reiche profane Prunkgewänder gekleidet und hebt sich ab von dunklen Schatten im Hintergrund, auf dem eine mächtige Burg auf die weltliche Macht verweist.
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Fox, Matthew
Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt der Theologie Meister Eckharts, denn „Gott und Gerechtigkeit sind vollkommen eins“ und „für den gerechten Menschen als solchen ist gerechtes Handeln Leben; ja, Gerechtigkeit ist sein Leben, sein Lebendigsein, ihr Sein, insofern sie gerecht ist.“1 In seiner brillanten Abhandlung über die Worte Jesu: „Seid barmherzig, wie euer Schöpfer im Himmel barmherzig ist“, erklärt er, dass „Barmherzigkeit Gerechtigkeit bedeutet.“2 Dies entspricht dem biblisch-jüdischen Verständnis, das Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit miteinander verbindet.
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Dominikanische Gestalt
Carballada, Ricardo de Luis
Im Jahr 2024 feiert der Dominikanerorden den fünfhundertsten Todestag einer der herausragendsten Persönlichkeiten unserer Ordensgeschichte: Fray Diego de Deza OP. Obwohl er ein Akademiker war, hat er keine Gerechtigkeitstheorien entworfen. Er hat sie vielmehr in der kirchlichen, sozialen und politischen Praxis angewandt. Fray Diego war eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Spanien der Katholischen Könige. Die Könige wählten ihn als einen Geistlichen aus, der die Kirchenreform vorantreiben sollte. Daher schlugen sie Rom seine Ernennung zum Bischof von Zamora, Salamanca, Jaén, Palencia, Sevilla und nicht zuletzt Toledo und damit zum Primas Spaniens vor. Die Berufung nach Toledo trat er jedoch nie an. In allem zeichnete er sich durch Ernsthaftigkeit und Strenge in seiner Arbeit, Einfachheit im Leben und einen ausgesprochenen Sinn für Gerechtigkeit aus.
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Wiedergelesen
Engel, Ulrich
„Das Recht ist nicht die Gerechtigkeit. Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, daß es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet. Die […] Erfahrungen der Gerechtigkeit [sind die] jener Augenblicke, da die Entscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten von keiner Regel verbürgt und abgesichert wird.“
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