Nette Nachbarn | Das andere Polen (1/2023)

Editorial

Engel, Ulrich | Prcela, Frano

Das ist so eine Sache mit „netten Nachbarn“! Zuweilen ist die Beziehung zu ihnen konfliktiv, aber aufgrund der örtlichen Nähe ist man gehalten, gut miteinander auszukommen. Das kann funktionieren, aber dafür müssen beiden Seiten etwas tun. Mit dem Untertitel „Das andere Polen“ soll darauf hingewiesen sein, dass gute Nachbarschaftspflege vor allem dann gelingt, wenn man den Nachbarn nicht nur mit Klischees behaftet und betrachtet, sondern auch Interesse an seiner Diversität und Entwicklungsfähigkeit zeigt.

Stichwort

Illiberale Konterrevolution und die katholische Kirche in Polen

Kołtan, Jacek

Die Geschichte des Verhältnisses zwischen dem katholischen Christentum und der Demokratie in Polen in den letzten Jahren ist eine Geschichte der fortschreitenden Katastrophe. In einer Zeit der politischen Radikalisierung, die sich seit 2015 vollzieht – dem Jahr des Sieges der rechtspopulistischen Koalition –, ist es äußerst schwierig, zwei gleichermaßen widersprüchliche Begriffe zu finden. Der politische Prozess der Konterrevolution soll eine Antwort auf die „liberale Revolution“ sein, die auf den Zusammenbruch des Kommunismus folgte. Welche Folgen hat diese Radikalisierung für die polnische religiöse Welt?

Polens Thron und Altar

Krzemiński, Adam

Immer noch gilt Polen als ein durchweg katholisches Land, obwohl die einstige Adelsrepublik, die im 18. Jahrhundert durch das protestantische Preußen, das russisch-orthodoxe Russland und das katholische Österreich aufgeteilt und liquidiert wurde, jahrhundertelang multikonfessionell und multiethnisch war – mit einer katholischen, orthodoxen, unierten, protestantischen, mosaischen und muslimischen Bevölkerung. Zu der Kontaminierung „Pole gleich Kathole“ kam es eigentlich erst im 19. Jahrhundert, als es in der Gründungsphase der europäischen Nationalstaaten kein polnisches Staatswesen gab. Damals wurde neben der Sprache, der Kultur und dem mythisierten Geschichtsbewusstsein auch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche – wohlgemerkt, mehr zur lokalen, polnischen als der Weltkirche – zu einem Hauptkennzeichen für die Identität der geographisch dreigeteilten und sozial stark ständisch ausdifferenzierten polnischen Nation. Es genügt zu erwähnen, dass z. B. die Bauern sich erst Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar in erster Linie wegen ihres katholischen Glaubens, als Teil der politischen polnischen Nation wahrnahmen. Zwei neue Massenbewegungen – die Nationaldemokraten und die Bauernparteien – beriefen sich damals ausdrücklich auf ihre katholischen Wurzeln und pflegten eine enge Bindung zur Kirche, während z. B. die Sozialisten zwar betont antiklerikal, aber nicht unbedingt atheistisch geprägt sein wollten; vielmehr traten sie für einen „offenen Katholizismus“ ein und gingen gerne Allianzen mit dem jüdischen „Bund“ ein.

„Herrsche und teile“ für die national-konservative Wende

Kaluza, Andrzej

Betrachtet man die kulturelle Entwicklung Polens in den letzten Jahren, so stechen gleich mehrere internationale Erfolge hervor, zunächst sicherlich die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an die engagierte Autorin Olga Tokarczuk. Internationale Erfolge feierten weitere polnische Literaten, so Szczepan Twardoch, Joanna Bator oder Jakub Ma?ecki. Und der Fantasy-Guru Andrzej Sapkowski wurde 2019 dank dem beispiellosen Erfolg des nach Motiven seines Werks entwickelten Computerspiels „The Witcher“ und einer gleichnamigen Netflix-Serie zeitweilig zum bestverkauften Autor bei Amazon. Auch im Bereich des Films wimmelt es nur so von Erfolgen: So erhielt das Drama „Cold War / Kalter Krieg“ von Pawe? Pawlikowski 2017 die Goldene Palme in Cannes, und auf der Berlinale gab es mehrere Auszeichnungen, u. a. für Agnieszka Holland („Spur“), Tomasz Wasilewski („United States of Love“) und Ma?gorzata Szumowska („Maske“). Als Publikumserfolg in Polen erwies sich dagegen der Skandalfilm „Klerus“ von Wojtek Smarzowski, der mit mehr als fünf Millionen Kinobesuchern an die Popularität von Historien-Produktionen anknüpfte. Viele neue Museen sowie öffentliche und private Kulturinstitutionen sind entstanden, einige wie das Museum der Geschichte der polnischen Juden – POLIN haben ein hohes internationales Renommee.

Und dennoch …

Warowny, Bartłomiej

Die politische Wende 1989, eine unvollständige Überprüfung der Geistlichen, die mit dem kommunistischen Regime zusammengearbeitet haben, die Neuordnung der polnischen Bistümer, die Unterzeichnung des Konkordats, das Ende des Pontifikats Johannes Pauls II., der Missbrauchsskandal und eine ungenügende, schwerfällige Reaktion der Kirche darauf, ein fragwürdiges (hinsichtlich der Funktionsfähigkeit) Spendensystem, durch welches das kirchliche Leben finanziert wird, eine sinkende Zahl der praktizierenden Katholiken und Priesterkandidaten, erste Zusammenlegungen von Priesterseminaren, nicht zuletzt die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine, das – in aller Kürze – sind die relevantesten Faktoren und Tatsachen, welche die jetzige Situation der Kirche in Polen innerhalb der letzten 33 Jahren bestimmten, bzw. sie beschreiben und darstellen.

Polen im Wandel

Kozłowska, Dominika

Schmerz, Trauer und Bitterkeit – das sind die Worte, mit denen nicht-heteronormative Mitglieder der römisch-katholischen Kirche in Polen zumeist ihre Gefühle beschreiben. Unter den Angehörigen der LGBTQ+-Gemeinschaft sind praktizierende Katholiken nur eine kleine Gruppe. Die meisten dieser Gläubigen sind aus der Kirche ausgetreten, weil sie nicht nur mit mangelnder Unterstützung und fehlendem Verständnis seitens der Geistlichen konfrontiert wurden, sondern auch mit Feindseligkeit.

Mut zur Wahrheit!

Napiwodzki, Piotr

In Polen sind wir daran gewöhnt, dass für die polnischen Verhältnisse der Satz gilt: Die Theologie ist schwach, die Kirche aber stark. Aber Achtung: Das ist längst nicht mehr der Fall! Die Situation ändert sich dynamisch, überraschend schnell und unzweifelhaft deutlich. Über die Kirche in Polen kann man heute alles sagen, aber sicher nicht, dass sie in irgendeinem Sinne wirklich stark ist. Junge Leute besuchen die Kirche selten oder nie. In den größeren Städten sieht die Situation nicht so tragisch aus (aber sie ist es), in Bezug auf die Provinz kann man jedoch schon von einer echten Revolution sprechen. Von einem lebendigen Glauben ist nur ein sehr reduzierter Ritualismus übriggeblieben. Die Katastrophe ist nahe. Die Priesterseminare stehen leer. Das war vor 20 Jahren noch unvorstellbar. Die politische Lage ist für die Kirche scheinbar günstig, aber faktisch bringt sie noch mehr Probleme und Unklarheiten.

Dominikanische Gestalt

Hyazinth von Polen OP (1190–1257)

Brzozecki, Sławomir

In den Quellen findet sich für den hl. Hyazinth der Name Jazko, Iacco, Jazccho, Jaccho, Jaczek oder Jaczko. Der Lektor Stanislaus von Krakau leitete den Namen Hyazinth etymologisch noch vom lateinischen Wort Hyacintus ab, welches entweder auf die Pflanze oder das Gestein verweist. In der heutigen Forschung wird jedoch angenommen, dass es eine Form des polnischen Namens Ja?ko, Jaksa oder Jakub sein könnte. Letzteres legt auch ein Dokument aus dem Jahr 1236 nahe, das Hyazinth als einer der Zeugen mit dem Namen Jacobuc qui et Jazco dicitur unterschreibt.

Wiedergelesen

Czeslaw Milosz „Verführtes Denken“ (1953)

Zils, Diethard

Die Sammlung von Aufsätzen, die Czesaw Miosz unter dem Titel The Captive Mind zu einem Buch vereinigt hat, halte ich für ein Dokument und gleichzeitig für eine Interpretation ersten Ranges. Die Sklavenschaft des Geistes in totalitären Staaten, die wir Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus äußerlich in den Redewendungen, Gebärden und Handlungen des damaligen Alltags, innerlich in der Anschauung dessen, was in den einzelnen Menschen vorging, erfahren haben, wird hier an den Erscheinungen der östlichen Volksdemokratien, besonders Polens, in einer Weise gezeigt, die wahrhaft ergreift, uns Deutsche vielleicht mehr noch als die westlichen Völker, denn wir sind Mitwisser dessen, was hier in polnischer Abwandlung gezeigt wird.