Maß und Mitte | Zwischen den Rändern (1/2022)

Editorial

Eggensperger, Thomas | Prcela, Frano

Der Philosoph Ralf Konersmann sieht, wie eine seiner Publikation verdeutlicht, die „Welt ohne Maß“ (Frankfurt/M. 2021) und möchte in ihr die große Geschichte von Maß und Maßlosigkeit erzählen. Die aktuelle Ausgabe von „Wort und Antwort“ sucht eine differenzierte Darstellung von „Maß und Mitte“, das sich „Zwischen den Rändern“ findet. Der Sozialethiker Inocent-Mária V. Szanisló OP geht in seinem Beitrag ein auf die Tugend des Maßhaltens. Die temperantia meint zum einen, aus verschiedenen Teilen ein geordnetes Ganzes zu fügen, zum anderen aber hat es auch mit sich Zügeln zu tun (temperare).

Stichwort

Tugend des Maßhaltens

Szaniszló, Inocent-Mária V.

Wenn man in dieser Ausgabe von „Wort und Antwort“ über moralische Tugenden sprechen möchte, insbesondere über die Tugenden der Mäßigung, dann muss man mit einem Mentalitätswandel namens Metanoia beginnen. Dies wiederum setzt voraus, dass Streben nach der Stetigkeit guten Verhaltens Tugend genannt wird. Die Tugenden sind, ebenso wie die Laster, ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Charakters. Die Tugend ist eine positive Antwort des Menschen auf die moralische Forderung nach ethisch gutem Verhalten.1 Dennoch gebraucht man den Tugendbegriff heute selten. Man spricht lieber von Werten, obwohl Tugend nichts anders ist als Stetigkeit im Wertverhalten.2 Tugend ist eine moralisch gute Eigenschaft, die den Menschen zum moralischen Guten führt. Dies setzt, laut Rahner, die richtige Grundentscheidung voraus (optio fundamentalis).

Zur konzeptuellen Maßlosigkeit des Maßhaltens

Hein, Rudolf B.

Termini wecken Assoziationen. Wer das Wort „Klimakrise“ auf den Lippen dem Papier zuführt, wird bei seinen Leserinnen wohlmöglich eine Kette von Assoziationen hervorrufen, die im Einzelnen zwar unterschiedlicher Natur sind, sich allerdings in bestimmten Bahnen bewegen.

Souveränität und Authentizität

Sautermeister, Jochen

Maßvoll zu leben, in Balance zu sein und aus der Mitte heraus zu handeln – all das zählt zu den Basics populärer Klugheitsregeln und Lebensweisheiten und findet bis in Werbeslogans, Buchtitel und Lifestyle-Angebote hinein seinen Niederschlag. In diesen bildhaften Wendungen kommt eine menschliche Sehnsucht zum Ausdruck, die um die Gefährdetheit und Brüchigkeit eines authentischen, stimmigen Lebens weiß; eine Sehnsucht, die sich aus der Erfahrung von existenzieller Unsicherheit und Orientierungsnot, von innerem Zweispalt und Uneindeutigkeit, von emotionalen Turbulenzen und dem Ausgeliefertsein an eigene Affekte, Gefühle und Motive sowie dem Ringen um richtige Entscheidungen und persönliche Handlungssouveränität speist.

Wider der politischen Entfremdung

Boeselager, Damian

Gerne habe ich mich von politischen Kommentaren berieseln lassen. Man kann dem Autor oder der Autorin im Geiste zustimmen oder widersprechen, man kann die spannendsten Ideen und Fakten in seine eigenen Gedanken und Gespräche mitnehmen. Aber es birgt eine Gefahr, ausschließlich Konsument von politischen Geschehnissen zu sein. Denn wenn die Mitte der Gesellschaft nur passiv aufnimmt, wird sie von den aktiven Extremen übertönt. Und im Getöse der Extreme polarisiert sich die Gesellschaft, kreiert unüberbrückbare Glaubenssätze und die Mitte schwindet. Daher folgt hier mein Plädoyer für eine aktive Mitte.

Das Wahre verbirgt sich nicht

Geiger, Heinrich

Die Idealvorstellungen von Maß und Mitte, wie sie in dem frühkonfuzianischen Traktat Die Anwendung der Mitte (zhongyong) formuliert sind, atmen den rationalen Geist des Konfuzianismus. Sie orientieren sich an einem Verständnis von Welt, dem jedes Mysterium fremd ist. Im „Gewinnen der Wahrheit“ (cheng zhi) besteht der „Weg des Menschen“ (ren dao). Doch, nachdem ihre Ordnungsvorstellungen in der Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) ins Wanken geraten waren, lassen die Vorstellungen der Konfuzianer Zeichen einer „spekulativen Ohnmacht“1 erkennen. In der Qin-Dynastie (221–206 v. Chr.) wurde der Konfuzianismus sogar unterdrückt. Gezwungenermaßen mussten sich seine Vertreter an den Gedanken gewöhnen, dass sich auch nach der Reichsgründung durch den Ersten Kaiser von China, Qin Shihuangdi (259–210 v. Chr.), im Jahr 221 v. Chr. die Erfüllung ihrer Hoffnung auf die Oikumene des Geistes nicht einstellen wollte. Um dennoch an ihr auf der ideellen Ebene festhalten zu können, griffen sie zu einem Trick: Sie unterschieden zwischen einer „Herrschaft durch Tugend“, idealiter verkörpert durch Konfuzius, und einer „Herrschaft durch Institutionen“, für die ihnen als abschreckendes Beispiel die Herrschaft des betont antikonfuzianischen Ersten Kaisers von China diente.

Dominikanische Gestalt

Luis de Granada OP (1504–1588)

Wieshuber, Lucas L.

Von seinen Zeitgenossen auch als der spanische Cicero bezeichnet1, gilt Luis de Granada als einer der ersten Ausweise der modernen spanischen Spiritualitätsgeschichte und als der meist gelesene geistliche Autor seiner Zeit.2

Wiedergelesen

Otto Friedrich Bollnow „Wesen und Wandel der Tugenden“ (1958)

Grün, Anselm

Im Jahre 1958 hat der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) ein Buch geschrieben mit dem Titel „Wesen und Wandel der Tugenden“. Darin beklagt er sich, dass in den letzten Jahren das Verständnis für manche Tugenden gesunken ist. Er antwortet vor allem auf den Wandel der Tugenden, wie er durch die Lebensphilosophie propagiert wurden. Da waren Leidenschaft und Engagement, Ursprünglichkeit und Lebendigkeit die wichtigsten Tugenden. Diesen eher irrationalen Tugenden stellt Bollnow Tugenden gegenüber, die offen sich für den Geist und auch für die Transzendenz. Er möchte keine Systematik der Tugenden entwerfen, sondern sie einfach phänomenologisch beschreiben.