Wo zwei oder drei … | Abrahami(ti)sche Religionen (4/2021)

Editorial

Halft, Dennis

Das Polyeder, auch ‚Vielflächner‘ genannt, ist ein dreidimensionaler Körper, der sich aus mehreren, auch verschiedenartigen ebenen Flächen zusammensetzt. Wie die Aluminium-Arbeit des italienischen Künstlers Getulio Alviani (1939–2018) auf der Titelseite zeigt, muss ein Polyeder weder ein Zentrum besitzen noch aus symmetrischen Flächen aufgebaut sein; dennoch bilden sie zusammen, in ihrer Verschiedenheit, eine Einheit. Das häufig von Papst Franziskus bemühte Bild des Polyeders (z. B. Evangelii gaudium [2013], 236; Fratelli tutti [2020], 215) kann auch für die heutige Situation im interreligiösen Dialog stehen: Keine Religion bildet in einer multireligiös-säkularen Gesellschaft (mehr) den Mittelpunkt, jede hat ihre eigenen theologischen Positionen und Besonderheiten, alle sind auf die eine oder andere Weise miteinander verwoben. Das gilt umso mehr für die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die jahrhundertelang dieselben geografischen Räume teilten.

Stichwort

Abrahami(ti)sche Religionen

Halft, Dennis

Es gilt als Binsenweisheit, dass sich Judentum, Christentum und Islam auf einen gemeinsamen Stammvater Abraham berufen und daher auch als ‚abrahami(ti)sche Religionen‘ bezeichnet werden können1, wobei jede von ihnen auf Grundlage normativer Schriften – Jüdische Bibel/Erstes Testament, Neues Testament und Koran – sowie der außerbiblischen/-koranischen Überlieferung zu anderen Deutungen der Figur Abra(ha)m bzw. Ibrahim gelangt.2 In der jüdischen Tradition gilt Abraham vor allem als Repräsentant einer torahkonformen Gottesbeziehung, die als durch das Zeichen der Beschneidung bestätigter „Bund“ vorgestellt wird (vgl. Gen 17,7.10). Dies macht Abraham zum spirituellen und genealogischen Vater des jüdischen Volkes. Hingegen betont die christliche Tradition seine Segenszusage für „alle Völker“, also auch für Nichtjuden, allerdings nur jene, die an das Evangelium glauben und in diesem Sinne Kinder Abrahams sind (vgl. Gal 3,6–9, in Rückgriff auf Gen 12,3; 18,18). Die muslimische Tradition wiederum sieht in Ibrahim den Prototypen des rechtgläubigen Monotheisten und ersten „Muslim“ (vgl. Sure 3,67; 6,161–163), der zu einem vernunftgeleiteten Gottesglauben gefunden hat.

Das Abrahamitische Abenteuer (Er)Leben

Meir, Ephraim

In Gemeinschaft mit Christen und Muslimen in der abrahamitischen Tradition lebe und schreibe ich doch aus der reichen Kultur und Weisheit jüdischer Überlieferung. In meinem Artikel wird das Judentum von seiner besten Seite, ad meliorem partem, gezeigt. Meine Perspektive ist nicht rein soziologisch-deskriptiv. Vielmehr nehme ich einen präskriptiv-normativen Standpunkt ein, eine metaphysische Position mit vielfachen sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Implikationen. Auch habe ich nicht vor, irgendeine Art Kompromiss zwischen den drei monotheistischen Religionen vorzuschlagen. Es geht vielmehr darum, herauszuarbeiten, was in der Tiefe unseres gemeinsamen Erbes wurzelt. Ich glaube, dass meine Position in der Torah und der in der jüdischen Tradition davon untrennbaren ununterbrochenen mündlichen Überlieferung der Torah begründet ist. Darum erscheint auch das Judentum bei mir nicht als eine vergangene Zivilisation, sondern als eine lebende Tradition mit zivilisierender Kraft, die Menschenrechte und Menschenwürde stützt. In meinem inklusiven Ansatz bin ich mir der Verbundenheit mit anderen abrahamitischen Religionen bewusst, dem Christentum sowie dem Islam, denn schon Abraham Joshua Heschel (1907–1972) schrieb „Keine Religion ist eine Insel“.2 Unsere gemeinsame Abstammung von Abraham verbietet es uns, uns gegenseitig in negativem Licht zu sehen, sondern lädt uns ein, uns als Brüder und Schwestern zu empfinden.

Jüdische Trialog-Initiativen in ihrem historischen und religionsrechtlichen Kontext

Ahrens, Jehoschua

Keine Frage, der jüdisch-christliche Dialog ist ein ganz besonderer, haben doch beide Religionen enge Beziehungen durch die jüdischen Wurzeln des Christentums, den teilweise gemeinsamen heiligen Schriften und eine lange Geschichte jüdischen Lebens in christlichen Gesellschaften, mit all ihren Einflüssen und Abgrenzungen.1 Seit einiger Zeit gibt es nun auch einen Trialog der „abrahamitischen Religionen“. Was auf den ersten Blick wie ein Novum scheint, ist im historischen und religionsrechtlichen Kontext des Judentums allerdings keine große Neuerung.

Mit der Korandidaktik zum abrahamitischen Trialog in Schule und Bildungsarbeit

Mohammed, Abualwafa

In diesem Beitrag wird für eine zeitgemäße Lesart des Korans als Beitrag für einen Trialog zwischen den drei großen monotheistischen Religionen plädiert. Diese Lesart wird von einer pädagogisch-didaktischen Perspektive begleitet. Wichtig dabei: Sie hilft auch den Muslim:innen selbst, das Friedenspotenzial des Korans im Alltag erlebbar zu machen. Der Trialog kann eine entscheidende Rolle bei dem Abbau von Vorurteilen, gegen Hass, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit spielen.

Intertheologie: Jenseits von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Sievers, Mira | Specker, Tobias

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wittert der Damaszener Theologe und Rechtsgelehrte Ibn Taymiyya eine Chance für eine radikale Grenzziehung zwischen Christ:innen und Muslim:innen. Aufgrund politischer Spannungen hatten sich die mamlukischen Herrscher in Kairo entschlossen, das öffentliche christliche Leben deutlich restriktiver zu reglementieren, als es ihre Vorgänger taten: So wurden Kirchen geschlossen, deren Neubau untersagt und Renovierungen erschwert.1 Ibn Taymiyya verteidigte nicht nur diese Maßnahmen gegen Kritik von islamischer Seite, sondern nutzte die Gelegenheit, um mit allen religiösen Uneindeutigkeiten, Vermischungen und Verbindungen abzurechnen, die ihm schon lange ein Dorn im Auge waren: Um Gottes willen sollen die muslimischen Gläubigen alle Imitationen christlicher Praktiken – wie Prozessionen oder Fürbittgebete – unterlassen. Sie sollen nicht an christlichen Festtagen teilnehmen, die christlichen Gläubigen bei ihren Feierlichkeiten unterstützen oder gar freiwillig an christlichen Fasttagen mitfasten. Keinesfalls sollen die Gotteshäuser gemeinsam genutzt werden. Vielmehr sollen muslimische wie auch christliche und jüdische Gläubige öffentlich erkennbar sein an ihrer Kleidung, der Barttracht oder auch an ihrer Sprache. Für den strengen Rechtsgelehrten wird selbst die Datumsfindung zum Distinktionsmerkmal: Muslimische Gläubige sollen auf keinen Fall „christliche“ Kalendermethoden zur Bestimmung ihrer Festtage nutzen, sondern die islamische Mondsichtung. Und natürlich geht es nicht nur um eine radikale Unterscheidung, sondern auch um die Frage der Vorherrschaft, die immer auch eine Frage der Sichtbarkeit ist. So will Ibn Taymiyya, dass christliche und jüdische Gläubige aus der Öffentlichkeit verschwinden: Ihre Kirchen sollen zurückgebaut, ihre Präsenz in der Armee oder in leitenden gesellschaftlichen Positionen verhindert und ihre rechtliche Stellung eingeschränkt werden. Will man es auf einen Begriff bringen, so verkörpern die Rechtsgutachten Ibn Taymiyyas den Geist einer klaren und radikalen Separation: Nur durch die totale Trennung wird die Reinheit der islamischen Gemeinschaft gewahrt.

Dominikanische Gestalt

Bernard Dupuy OP (1925–2014)

Halft, Dennis

„Das Verbrechen war so groß und bleibt so unermesslich, dass dadurch das Bild Gottes im Gewissen vieler Menschen verwundet wurde. Erinnern wir uns. Das Verbrechen wurde in einem vom christlichen Glauben genährten Europa begangen. Als Jünger Jesu ist es uns jetzt nicht möglich, uns dem Ewigen zuzuwenden und ihn zu preisen, wenn wir uns nicht zuerst mit unseren jüdischen Geschwistern versöhnt haben. (…) Um in Auschwitz beten zu dürfen, müssen wir unsere zu schwache und zu langsame Einsicht gegenüber der Verderbtheit der Nazis und der Todesgefahr, die damals über die Juden hereinbrach, bekennen. (…) Wir können den Teil der christlichen Verantwortung in der Geschichte, die in der Shoah endete, nicht von uns weisen.“

Wiedergelesen

Leo Baeck „Judentum, Christentum und Islam“ (1956)

Middelbeck-Varwick, Anja

Das vorangestellte Zitat mag eingangs die bemerkenswerte Offenheit und visionäre Kraft der im Jahr 1956 in Brüssel gehaltenen Rede des Rabbiners und Religionsphilosophen Leo Baeck anklingen lassen. Eine Rede, in der Baeck – ein halbes Jahr vor seinem Tod – das Verbindende zwischen Judentum, Christentum und Islam konturiert. Wegweisend und programmatisch ist die Rede schon deshalb, weil in ihr in höchst konzentrierter Weise das große Anliegen Baecks zum Ausdruck kommt, zwischen der jüdischen und der christlichen Glaubensgemeinschaft verständigend zu wirken. Sie ist dies zudem, weil sie gleichermaßen den Islam zum Judentum in eine sehr nahe Beziehung setzt. Damit entwirft die Rede schließlich eine jüdische Religionstheologie, die für jede gegenwärtige christliche interreligiöse Hermeneutik gewichtige Anstöße bieten kann.