Wünsch dir was! | Utopien/Dystopien (4/2020)

Editorial

Engel, Ulrich

Washington D.C. im Jahr 2054: In der US-amerikanischen Hauptstadt gehören Morde der Vergangenheit an. Möglich geworden ist die traumhafte Situation, weil die Abteilung „Precrime“ der Polizei alle potentiellen Verbrecher aufzuspüren in der Lage ist, bevor diese ihre Taten begehen können. Geschildert wird dies in dem US-amerikanischen Science-Fiction-Thriller „Minority Report“ aus dem Jahr 2002 (Regie: Steven Spielberg). Im Verlauf des Films wird jedoch bald schon deutlich, dass die Utopie eines verbrechensfreien Zusammenlebens mit dem massiven Verlust persönlicher Freiheit erkauft ist. Die realisierte Utopie mutiert zur höchst beunruhigenden Dystopie …

Stichwort

Utopie

Naumann, Gregor

Utopien artikulieren eine Vorstellung davon, wie eine gerechte Gesellschaft oder die beste Form eines Gemeinwesens aussehen soll: Sie geben an, wie die grundlegenden Institutionen geordnet sein sollen und welche Rolle das Eigentum spielen beziehungsweise ob und wie die distributive Gerechtigkeit gestaltet sein soll. Damit möchten Utopien Antworten auf die beiden zentralen Fragen der politischen Theorie geben.

Utopien und Dystopien als Orte seelischen Rückzugs

Funke, Dieter

Mit dem Verlust von gewohnten Alltagsabläufen während der Corona-Krise wurde vielen Menschen plötzlich bewusst, welche stabilisierenden Funktionen die fraglosen und ritualisierten Handlungen des Alltags haben: Sie erzeugen das Gefühl der Beständigkeit und Verlässlichkeit der Welt, sie geben die Gewissheit des ­Immer-so-weiter und schützen dadurch vor aufkommenden Ängsten vor dem Unverfügbaren und Ungewissen. Erst in der Unterbrechung der alltäglichen Handlungsabläufe wurde vielen der Wert dieser Rituale ebenso bewusst wie die Unverfügbarkeit von Sicherheit, Gesundheit und Zukunft.

Utopie statt Dystopie

Rupp, Sonja

Brandenburg stellt als ‚Ort‘ in der Literatur eine Projektionsfläche für deutsche Befindlichkeiten dar. So steht es bei Theodor Fontane – nicht ‚nur‘ in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (1862–1889) – als literarische Projektionsfläche für den Niedergang des Adels und in Günter Grass’ Roman „Ein weites Feld“ (1997) nicht zuletzt für den Untergang der DDR. Was von ‚Brandenburg‘ nach diesen Untergängen, inklusive dem des Nationalsozialismus, ‚übriggeblieben‘ ist oder daraus hervorgehen kann, wird in der literarischen Gegenwart oft zum Spielort für Utopien: zum Sehnsuchtsort oder Faszinosum, zum Ort völliger Offenheit, sich selbst zu verwirklichen oder wahre Gemeinschaft zu erleben. Die Utopie wirkt dabei umso überraschender, als sie mit negativen Lesererwartungen spielt, die vorwiegend von den Negativfolgen dieser Untergänge ausgehen und ‚Brandenburg‘ intuitiv als Dystopie konnotieren.

Utopien und Dystopien im Rahmen des Synodalen Wegs der Kirche in Deutschland

Hagenkord, Bernd

Utopien zur Kirche sind selten geworden. Früher träumten Christinnen und Christen von der Urgemeinde, die es wieder zu entdecken gälte. Die Basisgemeinde in ihrer idealisierten Form schwebte vielen Aktiven vor, das Reich Gottes in dieser Welt solle anbrechen. Davon ist wenig übrig geblieben. Kirche ist defensiv geworden, der große Wurf, der große Traum ist uns verloren gegangen.

„Wenn die Bahnfahrt zur Dystopie wird“

Eggensperger, Thomas

Als in der Hochzeit der COVID-19-Pandemie der Lockdown das Leben bestimmte, waren Zeitschriften und Blogs voll von Berichten über die Anders-Situation an den üblichen Orten. Bilder und Videos von öffentlichen Räumen mit gähnender Leere und persönliche Erfahrungsberichte über die Situation „draußen“, die man selbst aufgrund der mehr oder weniger freiwilligen Quarantäne kaum noch real mitbekam, überschlugen sich in der Medienwelt – zum einen, weil es kaum noch anderes zu berichten gab, zum anderen, weil der gesellschaftliche Zustand so ganz anders daherkam, als man es bislang gewohnt war.

Trans-Korporalität

Montoya, Angel F. Méndez

„I can’t breathe!“ – „Ich kann nicht atmen!“ Dies ist höchstwahrscheinlich einer der resonantesten dystopischen Ausdrücke, der die Welt während der Zeit der sozialen Entfremdung durch die COVID-19-Pandemie erschütterte. Seit Anfang 2020 haben Nationen, Schulen, Kirchen, Märkte, Unternehmen und weitere soziale Treffpunkte ihre Türen geschlossen, um durch soziale Distanznahme einem Virus vorzubeugen, der sich für Millionen von Menschen weltweit als fatal erwiesen hat. Aufgrund der Beschränkung und Schließung öffentlicher Plätze verstärkte sich die Nutzung sozialer Netzwerke und der Austausch über die digitale Welt. Daher macht das Video über den Tod des Afroafrikaners George Floyd aus Minneapolis (USA), dessen Hals von einem weißen Polizisten mit seinem Knie brutal zerquetscht wurde, die Demaskierung anderer Typen dystopischer Viren viral, die seit Jahrhunderten die Menschheit angreifen und ebenso tödlich sind.

Dominikanische Gestalt

Igino Giordani OPL (1894–1980)

Schmeiser, Norbert

„Kann ein Politiker heilig sein? Kann ein Heiliger Politiker sein?“1 Diese Frage stellte Igino Giordani (1894–1980) – Journalist, Publizist, vierfacher Vater, seit 1928 Terziar im Predigerorden und Politiker – 1946 im Vorfeld der Neugestaltung Italiens nach mehr als 20 Jahren Faschismus. Er versuchte, die Antwort in sich selbst zu finden.

Wiedergelesen

Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ (1954)

Contreras, Javier Martínez

„Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, lässt mit dem schlecht Vorhandenen sich nicht abfinden, lässt eben nicht entsagen. Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar. […] Denken heißt Überschreiten. […] es begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt. Wirkliches Überschreiten kennt und aktiviert die in der Geschichte angelegte, dialektisch verlaufenden Tendenz. Primär lebt jeder Mensch, indem er strebt, zukünftig, Vergangenes kommt erst später, und echte Gegenwart ist fast überhaupt noch nicht da. Das Zukünftige enthält das Gefürchtete oder das Erhoffte; der menschlichen Intention nach, also ohne Vereitlung, enthält es nur das Erhoffte. […] Sehnsucht, Erwartung, Hoffnung also brauchen ihre Hermeneutik, die Dämmerung des Vor-uns verlangt ihren spezifischen Begriff, das Novum verlangt seinen Frontbegriff. Und all das im Dienst des Zweckes, dass durch das vermittelte Reich der Möglichkeit endlich die Heerstraße zum notwendig Gemeinten kritisch gelegt werde, unabgebrochen orientiert bleibe. Docta spes, begriffene Hoffnung, erhellt so den Begriff eines Prinzips in der Welt, der diese nicht mehr verlässt. […] Indem es überhaupt keine bewusste Herstellung der Geschichte gibt, auf deren tendenzkundigem Weg das Ziel nicht ebenso alles wäre, ist der [Begriff Docta spes; J.M.C.] im guten Sinn des Worts: utopisch-prinzipielle Begriff, als der der Hoffnung und ihrer menschenwürdigen Inhalte, hier ein schlechthin zentraler. […] Philosophie wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit für die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben, oder sie wird kein Wissen mehr haben. Und die neue Philosophie, wie sie durch Marx eröffnet wurde, ist dasselbe wie die Philosophie des Neuen, dieses uns alle erwartenden, vernichtenden oder erfüllenden Wesens. […] Ihr Raum ist die objektiv-reale Möglichkeit innerhalb des Prozesses, in der Bahn des Gegenstands selbst, worin das von den Menschen radikal Intendierte noch nirgends besorgt, aber auch noch nirgends vereitelt ist.“1