Steh auf! | Lebenskunst (1/2018)

Editorial

Eggensperger, Thomas | Brandt, Christoph

Der Begriff der „Lebenskunst“ suggeriert Wellness und allgemeines Wohlbefinden; man assoziiert große Auslageflächen in Buchläden an gut sichtbaren Stellen. Dass hinter der Lebenskunst mehr steckt, zeigt in dieser Ausgabe der Zeitschrift Wort und Antwort bereits das „Stichwort“ von Jan Niklas Collet (Berlin/Köln), der von der Disziplinargesellschaft zur Ethik als Lebenskunst überleitet. Ein exemplarischer Durchgang durch verschiedene Entwürfe des Alten Testaments zur Lebenskunst macht recht unterschiedliche Ansätze sichtbar (Martin Staszak OP, Jerusalem). Ulrich Engel OP (Berlin/Münster) versteht Lebenskunst im Anschluss an Didier Eribon als immer wieder anzugehende Versuche eines Anderslebens inmitten bestehender Machtverhältnisse. Nach Meinung des Sozialethikers Gerhard Kruip (Mainz) hat dies vor allem mit Gerechtigkeit zu tun; ohne sie kann man seriös nicht über Lebenskunst sprechen. Lebenskunst als Antwort auf etwas Krisenhaftes gewinnt wieder an Bedeutung, so Jochen Sautermeister (Bonn). Virulent wird dabei die Frage nach grundlegender Orientierung. Als reflektierte Lebenskunst betont sie die Einbindung des Einzelnen in soziale, ökonomische und ökologische Zusammenhänge. Aurelia Spendel OP (Augsburg) stellt eine Beziehung her zwischen Glück und Lebenskunst, ist es doch die immer gleiche, alle Jahrtausende durchziehende Sehnsucht nach Schönheit, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, die Menschen dazu motiviert, ihr Leben mit Sinn und Verstand zu gestalten, um so irreversibel ein ganz und gar lebendiger Mensch zu werden.

Stichwort

Philosophie der Lebenskunst: (K)eine Anleitung zur Lebensführung

Collet, Jan Niklas

In ihrem 2016 erschienenen Roman erzählt Juli Zeh von einem intrigenhaften Kampf unter den Bewohner*innen des brandenburgischen Dorfes Unterleuten, in dem jene je auf ihren persönlichen Vorteil zielen und der schließlich zur Vernichtung des Dorfes führt. Zeh will ihren Roman als „absolut stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen“1 verstanden wissen. Denn „die Seite in uns, die empathisch, sozial, loyal ist, [steht] immer unter Legitimierungsbedarf. Die braucht immer Unterstützung durch eine Idee, eine Vision, eine Geschichte. Wir sind jetzt in einer Phase, in der das alles abgebaut ist und uns diese Geschichten fehlen. Deswegen hat das Eigeninteresse so ungeheuren Stellenwert bekommen und wir driften in eine große Infantilität ab.“

Beiträge

Lebenskunst und Lebenssinn – ein bibeltheologischer Aufriss

Staszak, Martin

„Wohlan, iss mit Freude dein Brot und trink frohen Herzens deinen Wein! Denn längst schon gefällt Gott dein Tun. Jederzeit seien deine Kleider weiß, und an Öl auf deinem Haupt fehle es nicht! Genieße das Leben mit der Frau, die du liebst, alle Tage deines vergänglichen Lebens, das er dir gegeben hat unter der Sonne, an all deinen vergänglichen Tagen! Denn das ist dein Lohn im Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich unter der Sonne abmühst.“

Empfangen, Aushalten und Gestalten. Christliche Spiritualität als Lebenskunst

Sautermeister, Jochen

Das eigene Leben zu führen, versteht sich nicht von selbst, zumindest dann nicht, wenn man vor Entscheidungen gestellt ist, die von einem eine bewusste Wahl abverlangen. Besonders deutlich wird dies bei Lebensentscheidungen. „Führe ich mein Leben richtig? Bin ich auf dem richtigen Weg?“ bilden dann nicht nur theoretische Fragen, sondern stellen sich auch in existenzieller Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit. Mitunter besteht dann der nachvollziehbare Wunsch nach klarer und eindeutiger Wegweisung.

Mein schönstes Ich. Lebenskunst als vitale Resonanz auf die Sehnsucht, lebendig zu sein

Spendel, Aurelia

Die Begleitung von Menschen in Entwicklungsprozessen, die in der Regel von einer schicksalsbedingten Krise und/oder einem inneren biografischen Umbruch ausgehen, trifft immer wieder auf die Frage nach dem je eigenen Glücklichsein oder Glücklichwerden. Dabei bilden weder die lutherische Not des „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ noch die klassische Katechismusfrage „Was muss ich tun, um in den Himmel zu kommen?“ die Leitplanken der Suche. Denn „Glück“ ist eine weit offene Chiffre für etwas, was in den persönlichen und systemischen Kontexten sehr unterschiedlich aussehen kann.

Gerechtigkeit – Voraussetzung guten Lebens für alle

Kruip, Gerhard

„Unter Lebenskunst wird grundsätzlich die Möglichkeit und die Anstrengung verstanden, das Leben auf reflektierte Weise zu führen und es nicht unbewusst einfach nur dahingehen zu lassen.“1 Dabei richtet sich die Anstrengung darauf, ein „gutes“, „gelingendes“ und „sinnvolles“ Leben zu führen. In spätmodernen, pluralistischen Gesellschaften hängt es selbstverständlich vor allem von den subjektiven Vorstellungen des Guten der einzelnen Individuen oder Gruppen ab, was darunter jeweils zu verstehen ist. Vorstellungen vom guten Leben lassen sich kaum universell festlegen oder gar als verpflichtend allen vorschreiben. Das jeweils Gute lässt sich meist nur hedonistisch oder präferenztheoretisch aus je individueller Perspektive erkennen und so nur als je „eigenes“ Ziel von „Lebenskunst“ setzen. Objektivistische Ansätze, die von einer menschlichen Natur ausgehend auf allgemeingültige Vorstellungen guten Lebens zu schließen versuchen, wie das z. B. Philippa Foot getan hat2, werden heute vielfach kritisiert und erscheinen kaum akzeptabel.

Lebenskunst als Widerstandspraxis. Zu Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“

Engel, Ulrich

Dass die Kunst des guten Lebens nicht immer leicht zu realisieren ist, muss kaum extra betont werden. Wenn allerdings Menschen angesichts schwerer Schicksalsschläge oder mangelhafter Rahmenbedingungen trotzdem die Kraft finden, wieder aufzustehen und es ihnen gelingt, an den Untiefen des Lebens bzw. an dem, was man aus ihnen gemacht hat, nicht zu verzweifeln, beeindruckt mich das sehr. Aus diesem Grund werfe ich einen Blick auf einen Romancier und Intellektuellen, in dessen Biographie ich solcherart widerständige Kraftreserven erkenne.

Dominikanische Gestalt

Mechthild von Magdeburg (1207/10–1282/94)

Schmeiser, Norbert

Als „Mein lieber Vater“1, „den ich am meisten von allen Heiligen liebe“ (VP IV/XX, 287), wird der Gründer des Predigerordens im „Fließenden Licht der Gottheit“ bezeichnet; dessen Autorenschaft2 wird der Begine Mechthild (von Magdeburg?) (1207/10–1282/94)3 zugesprochen. Diese Verehrung beruht auf der Übernahme von Vorstellungen im Fließenden Licht aus frühen Dominikus-Biographien. Insofern ist Mechthild eine dominikanische Gestalt, unabhängig von ihren möglichen persönlichen Kontakten zu Dominikanern, die im Fließenden Licht erwähnt werden, z. B. Heinrich von Halle, ihr leiblicher Bruder Balduin.

Wiedergelesen

Hans-Georg Gadamer: Freundschaft und Selbsterkenntnis (1985)

Eggensperger, Thomas

In den mittleren 1980er Jahren hatte ich die einzigartige Gelegenheit, Hans-Georg Gadamer (1900–2002), den Altmeister der hermeneutischen Sprachphilosophie, persönlich kennen zu lernen. Als junger Theologie- und Philosophiestudent nahm ich an einer der jährlich stattfindenden Tagungen der „Philosophischen Arbeitsgemeinschaft Walberberg“ teil, die jahrzehntelang von Paulus Engelhardt OP im Kloster dortselbst ausgerichtet wurden und vom Geist der philosophischen Debatte geprägt war. Von der Bedeutsamkeit dieses Treffens zeugten Koryphäen wie Karl Otto Apel oder Karl Albert, die ich dort antraf. Gadamer selbst hat seine Besuche in Walberberg2 offensichtlich in guter Erinnerung behalten und verwies in der Festschrift für Paulus Engelhardt ausdrücklich auf sie im Untertitel seines Beitrags: „Geschichtlichkeit und Wahrheit. Zur versäumten Fortsetzung von Gesprächen in Walberberg“3, versehen mit einer Fußnote, die explizit auf diese Begegnungen verweist.